Julia Ducournau hat das Kino der Gegenwart um eine Stimme bereichert, die man nicht mehr überhören kann. Mit Raw (2016) und Titane (2021) hat sie den Körper zum Schauplatz von Grauen und Begehren erklärt, ihn geöffnet, verschoben, überschrieben. Ihre Bilder lösten Ekel und Faszination zugleich aus, sie forderten ihr Publikum heraus, das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen zu erkennen.
Alpha, ihr neuer Film, führt diese Bewegung weiter, doch in eine andere Richtung: weg von eruptiven Gesten, weg vom viszeralen Schock, hin zu einer Allegorie, die weniger laut ist, aber nachhaltiger wirkt. Krankheit, Stigmatisierung und familiäre Bindung werden in einer Geschichte verdichtet, die von den Achtziger- und Neunzigerjahren erzählt, aber das Heute meint.
Im Zentrum steht die 13-jährige Alpha, die mit ihrer Mutter in der französischen Provinz lebt. Das Krankenhaus in der Nähe, in dem die Mutter arbeitet, ist Ort der Angst: Dort liegen die Kranken, deren Körper langsam zu Stein erstarren. Blass werden sie, rissig, unbeweglich, bis sie wie marmorne Statuen in sich verharren. Es ist ein Bild von beklemmender Schönheit, das zugleich jede Hoffnung zerstört. Als Alpha von einer Party zurückkehrt, ein Tattoo am Arm, gestochen mit einer gebrauchten Nadel, entsteht die Frage, ob sie sich infiziert hat – und ob sich die Katastrophe nun in ihrer Haut abspielt. Die Krankheit ist mehr als ein medizinischer Befund, sie ist ein gesellschaftlicher Spiegel, in dem sich, so wird der Film weithin gelesen, die Ängste der Aids-Ära bündeln: die Panik vor Ansteckung, die moralische Schuldzuweisung, die Isolation der Betroffenen. Parallel dazu zeigt der Film den Onkel Amin, dessen Körper vom Virus gezeichnet ist, der den Verfall mit Drogen beschleunigt und in seinem Sterben die Familie an ihre Grenzen treibt.
Body Horror lässt sich als ein Kino beschreiben, das den Körper nicht als feste Einheit, sondern als brüchiges, instabiles Gebilde versteht. Er zeigt, dass das, was wir für selbstverständlich halten – Haut, Fleisch, Organe, Bewegungen –, jederzeit kippen kann in Krankheit, Mutation, Zerfall. Anders als klassische Monsterfilme, in denen das Grauen von außen kommt, verlagert der Body Horror das Unheimliche nach innen: Das Monster ist der eigene Leib, der uns plötzlich fremd wird. Zugleich beruht seine Wirkung auf einer paradoxen Nähe. Da wir dem Körper nicht entkommen können, weil er das Medium jeder Erfahrung ist, affizieren uns Bilder seiner Auflösung besonders stark. Ein Schnitt in die Haut, das Hervortreten von Flüssigkeiten, die Verformung von Gliedmaßen – all das ruft nicht nur Ekel hervor, sondern eine unmittelbare körperliche Resonanz. David Cronenberg hat dieses Feld geprägt wie kein anderer. In Shivers (1975) krochen Parasiten in die Körper. In Videodrome (1983) verschmolzen Fleisch und Bildschirm. In The Fly (1986) verwandelte sich ein Mann in ein Insekt. In Crash (1996) wurde das Begehren an die Wunden nach Autounfällen gebunden. Cronenberg verstand es, das Abjekthafte und das Philosophische zu verschränken; jeder Schockeffekt blieb an eine existenzielle Reflexion gebunden. Bei ihm war der Körper nie nur Fleisch, sondern Metapher: für Technik, Sexualität, Entfremdung, Begehren. Seine Filme wirken kühl, analytisch, fast wissenschaftlich – der kanadische Regisseur absolvierte ein Studium in den Naturwissenschaften.
Ducournau wählt eine andere Tonlage. Ihre Bilder sind nicht distanziert, sondern nah, voller Empathie für die Figuren. Sie zeigt nicht das Fremde im Körper, sondern die Verunsicherung, wenn der Körper dem Vertrauten entgleitet: Raw erzählte vom Erwachen einer jungen Frau, die über den Kannibalismus zu sich selbst findet – ein blutiges, lustvolles und zugleich beschämendes Initiationsritual. Titane trieb die Körpererfahrung ins Groteske, verschmolz Mensch mit Metall, Schwangerschaft mit Gewalt, Geschlecht mit Fremdheit. Beide Filme setzten auf den unmittelbaren Schock, auf Blut, Fleisch und Flüssigkeiten, die sich ins Gedächtnis brennen. Alpha geht den umgekehrten Weg. Hier gibt es kein Spektakel, keine Explosion des Körpers. Das Grauen liegt im Stillstand: im langsamen Erstarren, in der Kälte, in der Unausweichlichkeit des Verfalls. Der Körper wird zum Denkmal seiner eigenen Vergänglichkeit, zu einer Skulptur, die schon zu Lebzeiten zum Grabmal wird.
Diese Verlagerung verändert die Erfahrung des Zuschauens. Ducournau nimmt dem Body Horror das plakative Zersetzungsbild und ersetzt es durch eine Allegorie, die tiefer wirkt. Der Schrecken ist nicht der Ekel, sondern die Dauer, das unaufhaltsame Fortschreiten. Die Kamera von Ruben Impens trägt dazu bei: Enge Flure, düstere Räume, Farben von Blau und Grau, die alles Lebendige ersticken. Nur gelegentlich bricht Wärme auf, Szenen häuslicher Nähe, die jedoch sofort wieder unterlaufen werden. Der Film arbeitet nicht mit Überwältigung, sondern mit Beklemmung. Die Figuren tragen diesen Ansatz. Mélissa Boros als Alpha verkörpert die Unruhe einer Heranwachsenden, die den Blicken der anderen ausgesetzt ist und selbst nicht weiß, was mit ihrem Körper geschieht. Ihr Spiel ist zurückgenommen, tastend, voller Stille. Tahar Rahim zeigt den Onkel Amin als Gestalt des Verfalls: aggressiv, verletzlich, voller Zorn und Resignation. Golshifteh Farahani als Mutter ist hin- und hergerissen zwischen Fürsorge und Kontrolle, zwischen Schutz und Übergriff. Diese Konstellation verschiebt den Film vom Horror ins Familiendrama: Der Körperhorror ist nicht Selbstzweck, sondern Ausdruck einer Beziehungsgeschichte.
Dass die Handlung in den Jahren der Aids-Krise angesiedelt ist, macht Alpha zu einem politischen Film. Er zeigt, wie Krankheit zum sozialen Marker wird, wie Angst und Scham Körper von Subjekten in Objekte verwandeln. Die Erstarrung zu Stein ist dabei eine doppelte Metapher: Sie zeigt den physischen Verfall, aber auch die soziale Isolation, das Gefangensein im Urteil der anderen. Krankheit wird hier nicht nur medizinisch verstanden, sondern als gesellschaftlicher Prozess: Ausgrenzung, Vereinzelung, Stigmatisierung. So führt Ducournau die Tradition des Body Horror fort und überschreitet sie zugleich. Während das Genre lange von spektakulären Exzessen geprägt war – man denke an die Splatter-Filme eines Herschell Gordon Lewis, an den Terror von The Texas Chainsaw Massacre (1974) oder die Mutationsfantasien in The Thing (1982) –, hat gerade David Cronenberg gezeigt, dass im Blut und den Eingeweiden, in der physischen Deformation, auch Fragen nach Begehren, Identität und sozialer Ordnung liegen können. Ducournau knüpft dort an, geht aber einen Schritt weiter: Sie nimmt dem Körperhorror das analytische Moment und ersetzt es durch eine Nähe zu ihren Figuren, durch Empathie und Intimität. Was bedeutet es, mit den Kranken zu leben? Wie verändert sich Familie, wenn Körper zerfallen? Alpha ist ein Film, der nicht vom Monströsen fasziniert ist, sondern vom Leiden der Menschen. Der Horror liegt nicht mehr im Aufbrechen des Fleisches, sondern im Verstummen, im Stillstehen, im Verschwinden.
Alpha lebt von seiner schweren, dichten Atmosphäre, die sich langsam in die Wahrnehmung einschreibt. Wer Ducournaus Werk kennt, sieht die Entwicklung – vom blutigen Initiationsritual in Raw über die groteske Hybridisierung in Titane bis zur Allegorie des Stillstands in Alpha. Damit zeigt sich, dass Body Horror kein starres Genre im engeren Sinn ist, sondern ein flexibles Feld, das sich politischen, sozialen und existenziellen Fragen öffnen kann.