Schottland in Europa

Der nächste Zank

d'Lëtzebuerger Land vom 20.12.2019

Kurs in Richtung Kollision: Im Konflikt um ein neues Unabhängigkeitsreferendum für Schottland haben sich die Fronten zwischen den Regierungen in London und Edinburgh verhärtet. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte kurz nach den britischen Unterhauswahlen vergangene Woche einen formellen Antrag auf ein neues Referendum an. Die Schottische Nationalpartei (SNP) hatte bei der Parlamentswahl deutlich zugelegt. Sie gewann 48 der 59 Sitze in Schottland mit 45 Prozent der schottischen Wählerstimmen, was einem Plus von acht Prozent gegenüber der letzten Wahl entspricht. Sturgeon interpretiert dies am Wahlabend als ein neues Mandat für ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum.

Doch dazu benötigt sie die Zustimmung Londons. Es gehe nicht darum, Boris Johnson oder einen anderen Politiker in Westminister um Erlaubnis zu bitten, so Sturgeon. Sie mache lediglich das demokratische Recht der Schotten gelten, über ihre eigene Zukunft zu bestimmen. Doch Johnson ficht dies nicht. „Der Premierminister hat klar gemacht, dass er gegen ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist“, erklärte eine britische Regierungssprecherin nach einem Telefonat zwischen Sturgeon und Johnson am vergangenen Freitag. „Er fügte hinzu, dass das Ergebnis von 2014 klar war und respektiert werden sollte.“ Sturgeon antwortete umgehend auf Twitter: „Und ich habe klargemacht, dass das Mandat der SNP respektiert werden muss, den Menschen eine Wahl zu ermöglichen.“

Vor fünf Jahren hatten 55 Prozent der Schotten gegen die Abspaltung vom Vereinigten Königreich gestimmt. Aber das war vor dem Brexit. Deshalb argumentiert Sturgeon nun, die Schotten hätten sich damals mehrheitlich für einen Verbleib im Königreich und damit in der Europäischen Union ausgesprochen. Mit dem Votum für den Brexit 2016 habe sich die Lage jedoch geändert. Sowohl Schottland als auch Nordirland hatten beim Austrittsvotum 2016 mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt. Während in England mehr als 53 Prozent der Wähl raus aus der EU wollten, stimmten in Nordirland 56 Prozent und in Schottland 62 Prozent für den Verbleib in der Union. Sturgeon ging in ihrer Stellungnahme zu den Wahlen auch nicht auf das Pro und Contra des Brexits ein, sondern berief sich in erster Linie auf das Selbstbestimmungsrecht Schottlands: „Zweifelsohne ist die Zukunft, die von er Mehrheit der Schotten erwünscht wird, ganz anders als das, was von der Mehrheit im restlichen Vereinigten Königreich gewählt worden ist.“ Dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in Schottland in der EU bleiben wolle, habe sich beim Referendum 2016, bei der Parlamentswahl 2017 und der Europawahl im Mai gezeigt und sei bei der aktuellen Wahl noch einmal deutlich bestätigt worden, so Sturgeon. Und weiter: Sie sehe ein, dass Johnson ein Mandat für einen Brexit in England habe, aber er habe kein Mandat, Schottland aus der EU zu führen.

Nun ist es jedoch so, dass Boris Johnson am längeren Hebel sitzt. Formell. Denn er muss einer Wiederholung der Volksabstimmung zustimmen. Der britische Premier beharrt auf dem Standpunkt, dass 2014 alles gesagt worden sei. Deshalb wird er nun einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen, um den Schotten die wirtschaftlichen Vorteile eines Verbleibs beim Vereinigten Königreich zu vermitteln. Nicola Sturgeon lässt es hingegen auf eine Machtprobe mit Johnson ankommen. Damit Schottland nach dem Brexit wieder in die EU eintreten kann, will die schottische Regierungschefin noch vor dem Jahresende in London die Abhaltung eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums beantragen. So will sie dem Druck der SNP-Basis nachgeben, die mehr denn je auf eine Loslösung von London pocht. Falls die SNP bei den nächsten schottischen Parlamentswahlen 2021 einen deutlichen Wahlsieg einfahren sollte, dürfte der Druck ohnehin nochmals zunehmen. Sturgeon hat sich bei Johnson einiges in Punkto Populismus abgeschaut – und weiß auch, wie man Themen setzt: Wenn London die Autonomiewünsche Schottlands ignorieren würde, wäre das „eine Perversion von Demokratie“, legte die Regierungschefin in einem Gespräch mit dem Fernsehsender BBC nach.

Dieses schottische Selbstbewusstsein bringt die Europäische Union allerdings in eine missliche Lage, auch wenn es auf den ersten Blick als ein Bekenntnis zur europäischen Idee deuten lässt. Viele Schotten betrachten ihre Mitgliedschaft im Vereinigten Königreich als Zwangsgemeinschaft. Sie sind stolz auf ihre eigene Sprache, ihre eigene Kultur. Im Vergleich zu England herrscht in Schottland ein liberaler Zeitgeist. Ersetzt man „Schottland“ durch „Katalonien“ lässt sich schnell die Brisanz des schottischen Unabhängigkeitsbegehrens erkennen. Eine aktive Unterstützung der schottischen Posi-
tion würde zumindest von der spanischen Regierung unterbunden werden und auch die politische Situation in Belgien bestimmen. Doch im Gegensatz zu Katalonien möchte Sturgeon in Schottland kein illegales Referendum abhalten lassen oder eine offene Rebellion gegen London vorantreiben. Sie kündigte an, noch vor Weihnachten darzulegen, wie sie ihrer Regionalregierung auf demokratischem Wege die Entscheidungsgewalt über eine Volksabstimmung sichern möchte.

Doch schon einmal glaubte Sturgeon, Schottland aus dem Vereinigten Königreich herausführen zu können. Nach der Brexit-Abstimmung im Sommer 2016 gingen die Menschen in Schottland für ein zweites Referendum auf die Straße. Doch damals zögerte die Politikerin, da Meinungsumfragen zeigten, dass diese Abstimmung verloren gehen würde. Bis zu den Wahlen vergangene Woche sah die Lage kaum anders aus. Für Nicola Sturgeon ist es – wie für jedwede populistische Politik – wichtig, die Gunst der Stunde zu nutzen. Denn bereits vor drei Jahren verflog die Stimmung und auch die Schotten richteten sich in der damaligen Brexit-Ernüchterung ein, in der leisen Hoffnung, dass der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nie vollzogen würde.

Martin Theobald
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