Die Besetzung des Staatsrats bleibt ein ewiges Missverständnis

Die Schattenkammer

d'Lëtzebuerger Land du 18.05.2018

Dass die Grünen nach der katholischen Sozial­arbeiterin Agnès Rausch mit der Präsidentin von ATD Quart Monde, Joëlle Christen, schon wieder eine Sprecherin der Verdammten dieser Erde in den Staatsrat schicken wollten, empfand dieser offenbar als Zumutung. Deshalb kooptierte er am 8. Mai mit 14 gegen fünf Stimmen die im letzten Augenblick aus dem Hut gezauberte ­Martine ­Lamesch, eine Rechtsanwältin aus bekannter Unternehmerfamilie und Spezialistin für Grundeigentümerrecht.

Die Enttäuschung der Grünen, die schon überraschend Agnès Rausch statt Marc Elvinger und Mike Matthias statt Abbes Jacoby in den Staatsrat schicken mussten, ist maßlos. Weniger wegen der Verdammten dieser Erde, als weil sie mit ihrem Eintritt in die Regierung vor fünf Jahren geglaubt hatten, von CSV, LSAP und DP als gleichwertig respektiert zu werden. Nun mussten sie erleben, dass sie auch von den Koalitionsparteien noch immer wie die Kinderpartei in Jup Webers kurzen Hosen behandelt werden. Denn von den 14 Stimmen für ­Martine Lamesch mussten etwa fünf von DP- und LSAP-Räten kommen. Premier Xavier Bettel (DP) blockte während der Kabinettssitzung vergangene Woche eine Aussprache unter Ministerkollegen darüber ab.

Der grüne Minister für Nachhaltigkeit und Infrastrukturen, François Bausch, war in einem Radiointerview so verstört, dass er meinte, der Staatsrat habe sich selbst geschadet, deshalb müsse er nun transparenter werden. Dabei müsste der Minister als ehemaliger Berichterstatter des Ermittlungsausschusses zum Geheimdienstskandal wissen, dass eine Institution nie transparenter ist, als wenn sie sich selbst schadet.

Parti des fonctionnaires Schließlich war der Staatsrat vor gut 160 Jahren gegründet worden, um zu verhindern, dass die Verdammten dieser Erde einmal selbst zu Wort kämen. Die Herrschaft der holländischen König-Großherzöge in Luxemburg stützte sich damals auf das aus dem Adel und dem Großbürgertum stammende hohe Beamtentum, das mit willkürlich festgelegten Gehältern, Pensionen, Wartegehältern, Ämterhäufung und Privatgeschäften belohnt wurde. Das hohe Beamtentum, aus dem auch ein großer Teil der Regierungsmitglieder und Abgeordneten stammte, war antidemokratisch, orangistisch und freimaurerisch. Seine politischen Gegner, die rechten Kleriker und Grundeigentümer auf der einen Seite, die liberalen Industriellen auf der anderen Seite, ihre Presse, das Luxemburger Wort und der Courrier du Grand-Duché de Luxembourg, nannten es den „parti des fonctionnaires“.

Die in der Revolution von 1848 erkämpfte liberale Verfassung „avait ravi au haut fonctionnariat sa position de classe dominante en liaison avec les notables et lorsque le cabinet de la Fontaine avait dû quitter le pouvoir en novembre 1848 le haut fonctionnariat était passé à l’opposition“, erzählt Albert Calmes (La révolution de 1848 au Luxembourg, S. 228). Die politische Entmachtung des hohen Beamtentums als Basis der autoritären Monarchie war ein Kernpunkt der neuen Verfassung: „Trois jours durant les États discutèrent de l’incompatibilité du mandate législatif avec l’exercice de fonctions publiques ou ecclésiastiques. Nous savons par le pétitionnement de mars, et nous le reverrons aux élections de septembre 1848 pour la Chambre, que le pays était hostile aux hauts fonctionnaires. Pas de fonctionnaires là où des votes de complaisance pour le gouvernement sont à appréhender, clamait l’opinion publique au Luxembourg comme en France et en Belgique“ (Calmes, S. 210). Als Antwort auf diesen Ruf sieht Artikel 54 der Verfassung bis heute die Unvereinbarkeit des Abgeordnetenmandats mit allerlei staatlichen Ämtern vor; werden Beamte, die ins Parlament gewählt werden, in den einstweiligen Ruhestand versetzt.

„N’ayant visiblement aucune chance de renverser la majorité de la Chambre, le parti des fonc­tionnaires s’orienta désormais vers le coup de force pour balayer le régime parlementaire”, stellt Calmes fest (S. 287). Dieser Gewaltstreich sollte 1856 der Staatsstreich des König-Großherzogs werden: „Lorsque le coup d’État de 1856 ramena le parti des fonctionnaires au pouvoir, la loi sur les cumuls de 1850 fut abrogée“ (Calmes, S. 285).

Zweite Kammer Als Gegenmacht zum in der Revolution erstarkten Parlament hatte der ­König-Großherzog schon 1848 eine zweite, nicht gewählte und nicht öffentliche Kammer einrichten wollen, die weitere demokratische Reformen verhindern sollte, „une Chambre haute, recrutée parmi les contribuables payant au moins 200 fl. de contributions, c’est-à-dire parmi les grands propriétaires et grands industriels“. Damit hatte er sich aber in den unruhigen Zeiten nicht durchsetzen können, das Parlament gestand ihm lediglich eine Commission permanente de législa­tion zu. Doch „la constitution octroyée à la suite du coup d’État de 1856 transforma cette commission en un Conseil d’État, institution qui existe encore de nos jours” (Calmes, S. 211).

Beim Staatsstreich des Monarchen diktierte Prinz Heinrich am 4. Oktober 1856 dem Parlament: „Pour la législation, le Conseil d’État tiendra lieu d’une deuxième Chambre.“ Diese zweite Kammer sollte eine „garantie pour la maturité des lois“ darstellen, das heißt, das gewählte Parlament daran hindern, Gesetze zu verabschieden, die so lange für unreif gehalten wurden, als sie etwas an den bestehenden Verhältnissen ändern würden, heute würde man „populistisch“ sagen. Der König-Großherzog besetzte seine Kammer mit dem ihm ergebenen hohen Beamtentum, von dem ein Teil nicht mehr Abgeordnete werden durfte. So bekamen die Richter und Verwaltungschefs, die zwischendurch auch einmal Minister oder Abgeordnete waren, ihre eigene Kammer, wo sie auch in Verwaltungsstreitsachen über Entscheidungen ihrer Behörden urteilen durften.

Von den 180 Mitgliedern, die von 1857 bis heute dem Staatsrat angehörten, manche mit mehreren Mandaten, waren 144 Richter, Verwaltungschefs und sonstige Beamte, ehemalige Minister und Abgeordnete, Vertreter des großherzoglichen Hofs. So ist der Staatsrat eine zweite Kammer, in der der teilweise autonome Staatsapparat anonym und hinter verschlossenen Türen die erste Kammer, das Parlament, kontrolliert.

Aus den Reihen des hohen Beamtentums stammten während des ersten Jahrhunderts seines Bestehens sämtliche Mitglieder des Staatsrats und danach fast alle. Erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen, als Zeichen einer bescheidenen Demokratisierung, zehn Beamte in nicht-leitenden Funktio­nen in den Staatsrat. Als Zugeständnisse an die wirtschaftliche Macht wurden in den vergangenen mehr als 70 Jahren neun Führungskräfte der Stahlindustrie und der Finanzbranche aufgenommen sowie ein Teil Geschäftsanwälte. Weil das Gesetz inzwischen vorschreibt, dass mindestens elf der 21 amtierenden Staatsräte Jura studiert haben müssen, gehörten bisher 22 Rechtsanwälte, die nicht Minister, Abgeordnete oder Verwaltungschefs waren, dem Staatsrat an.

Nur fünf Räte in der 160-jährigen Geschichte des Staatrats waren Ufos aus anderen gesellschaftlichen Schichten, in denen es bekanntlich eine Mehrheit von Arbeitern und Angestellten, Handwerkern, Bauern, Hausfrauen, Kindern und Rentnern gibt. Der LSAP war es im Laufe der Jahrzehnte gelungen, drei aus der Arbeiterklasse aufgestiegene Gewerkschaftsfunktionäre an der Juristenquote vorbei in den Staatsrat zu schicken, Johny Lahure, John Castegnaro und Lucien Lux. Nach 118 Jahren wurde 1975 die erste und für lange Zeit einzige Frau in den Staatsrats genannt, die liberale Anwältin Annette Schwall-Lacroix. Seit 1897 gehört, neben dem einen oder anderen Hofmarschall, auch jeder Erbgroßherzog dem Staatsrat an. Laut Sitzungsprotokoll hatte Erbgroßherzog Guillaume vor 14 Tagen die Sitzung rechtzeitig verlassen, als Martine Lamesch zur neuen Staatsrätin gewählt werden sollte.

Der Staatsrat scheut sich, sich zweite Kammer zu nennen, um nicht vorgehalten zu bekommen, dass er gegen sämtliche parlamentarischen Prinzipien verstößt: Seine Sitzungen sind nicht öffentlich, seine Entscheidungen sind anonym, und vor allem werden seine Mitglieder nicht gewählt, sondern von Regierung, Parlament und vom Staatsrat bestimmt: Als Erbe des ehemaligen Parti des fonctionnaires kooptiert der Staatsapparat sich selbst. Die Reform von 2017 bestimmte, dass der Staatsrat zwar parteipolitisch unabhängig sein soll, seine Besetzung aber dem Parteienproporz im Parlament Rechnung tragen soll. Der dadurch gerade wieder entbrannte Streit erinnert daran, weshalb ungeschriebene Gesetze nicht niedergeschrieben werden sollen.

Gewaltentrennung Die Aufgabe des Staatsrats hat sich seit seiner Gründung nicht geändert. Artikel 2 des Gesetzes von 1857 besagte: „Le Conseil d’État délibère, en assemblée générale de tous ses membres, sur les projets de lois, les amendements, les règlements d’administration publique.“ In Artikel 1 des Gesetzes von 2017 heißt es: „Le Conseil d’État donne son avis sur tout projet ou proposi­tion de loi ainsi que sur tout amendement afférent et sur tout projet de règlement grand-ducal pris pour l’exécution des lois et des traités.“ Dabei geht von einer Beschränkung auf juristische, verfassungsrechtliche oder legistische Kriterien keine Rede.

Als zweite Kammer, die den Staatsapparat gegen andere gesellschaftiche Bestrebungen verteidigt, kommt der Staatsrat notgedrungen mit der Gewaltentrennung in Konflikt. Das zeigte sich nicht nur, wenn Richter an der Gesetzgebung beteiligt waren, deren Texte sie später anwandten. Es wurde nie offensichtlicher als 1995, als der Europäische Menschenrechtsgerichtshofs die Art und Weise verurteilte, wie Staatsräte im Streitsachenausschuss über die Anwendung von Gesetzen befanden, die sie zuvor begutachtet hatten. So wurde aus dem Streitsachenausschuss das Verwaltungsgericht.

Im Laufe seiner Geschichte zeigte der Staatsrat wiederholt, dass er im Zweifelsfall weniger „gardien de la Constitution et des droits et Libertés fondamentaux“ ist, wie er 2006 eine Selbstdarstellung überschrieb, als ein Selbsterhaltungsorgan des Staatsapparats. So unterstützte er in seinem Gutachten vom 5. April 1935 zum Maulkorbgesetz die Regierung: „On ne pourra pas objecter que les mesures proposées léseraient les libertés intangibles appartenant à tout homme […]. À lire l’art. 1er, la conviction s’impose facilement que le projet n’entend nullement mettre sous peines n’importe quelle opinion […]. Le projet ne viole non plus l’art. 26 de la Constitution, puisque, si les Luxembourgeois ont le droit de s’associer, cette association, comme l’affirme encore Errera, ne doit pas être contraire à l’ordre social“ (Kammerbericht 1934-35, S. 343).

In seinem Bericht La „question juive“ au Luxembourg (1933-1941) geht Vincent Artuso auf die Rolle des Staatsrats unter der deutschen Besatzung ein. Nach dem Überfall und der Flucht der Regierung machte die Verwaltungskommission ein Kollaborationsangebot an die Besatzer, um den Staatsapparat zu erhalten. „De fait le Conseil d’État abonda dans le sens de Wehrer, posant pour seule condition qu’un nouveau vote ait lieu à la Chambre des députés“ (S. 101).

Die Nazis waren aber nicht interessiert. Sie lösten im Oktober 1940 den Staatsrat auf, doch „le Conseil d’État, bien qu’officiellement aboli, se réunit en séance extraordinaire [...]. Les membres du Conseil d’État estimèrent que le temps était venu de céder aux exigences allemandes. Seule une adhésion massive des fonc­tionnaires à la VdB [Volksdeutsche Bewegung; rh.] pouvait sauver la situation“ (Artuso, S. 123). Die zu dieser konspirativen Sitzung versammelten Männer wussten, dass die Frage, welche im Parlament vertretenen Parteien die Staatsräte stellen dürfen, schon immer „superfétatoire“ war.

Romain Hilgert
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