Mit der letzten Tripartite ist Xavier Bettel vielleicht einer der größten Coups seiner politischen Karriere gelungen. Der Solidaritéitspak 3.0 scheint alle zu bedienen. Außer die Armen und die Umwelt

Wéi geet et muer weider?

Die Regierung am Freitagabend nach der Tripartite
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 10.03.2023

Cadeau „Ech wëll net soen, dass dat dee schéinste Cadeau ass, den ech bis elo kritt hunn haut, mee et ass awer, dass mer et fäerdeg bruet hunn, zesummen en Accord ze fannen, ass fir mech en Zeechen, dass wann et wierklech drëms geet, zesumme Léisungen ze sichen a Situatiounen, wou et awer kritesch ass, a ganz vill Bierger sech d’Fro stellen: ‚Wéi geet et muer weider?‘, mer gemeinsam Léisunge fannen, déi zilorientéiert sinn, déi et erlaben, eis Wirtschaft net ze schwächen, mee déi et och erlaben, déi Leit, déi hei schaffen, weider attraktiv wëlle schaffen ze kommen, an och den Eenzelen ze hëllefen“, resümierte Pre-mierminister Xavier Bettel (DP) am Freitagabend die Tripartite-Vereinbarung in der ihm eigenen Parole und bedankte sich bei den Sozialpartnern. Er wusste, dass ihm mit dem „Solidaritéitspak 3.0“ ein politischer Coup gelungen war: An seinem 50. Geburtstag hat er mit einer Tripartite, nach der die Sozialpartner nicht gerufen hatten, sich selbst und die Regierung, die Gewerkschaften, das Patronat und die Opposi-tion beschenkt. Und – vor allen Dingen – die Mittelschicht: seine Wähler/innen.

OGBL, LCGB und CGFP waren fast außer sich vor Freude, weil die Regierung endlich ihrer Forderung nach einer Anpassung der Steuertabelle an die Inflation zumindest zur Hälfte nachgekommen war. Ihre Erwartungen seien übertroffen worden, sagte OGBL-Präsidentin Nora Back am Dienstag dem Land. Und auch UEL-Präsident Michel Reckinger unterstützt das Abkommen „voll und ganz“. Durch die Verlängerung der Energiepreisbremse um ein ganzes Jahr soll die Inflation 2024 laut Statec-Prognose von 4,8 auf 2,8 Prozent sinken. Dadurch soll nur eine Indextranche fallen, was die Forderung der Arbeitgeber, – grundsätzlich – nur noch eine Tranche pro Jahr auszubezahlen, wenigstens einstweilen erfüllt, und gleichzeitig den Gewerkschaften vor den Sozialwahlen kräftezehrende Index-Kämpfe erspart. Zwei Fliegen mit einer Klappe hat Xavier Bettel am Freitag geschlagen. Vielleicht waren es auch drei oder vier.

Denn eine Anpassung der Steuertabelle an die Inflation forderten in den vergangenen Monaten nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die CSV. Der größten Oppositionspartei haben DP, LSAP und Grüne im Wahlkampf nun Wind aus den Segeln genommen, umso mehr sie mit der Erhöhung des bëllegen Akt und der Erweiterung der Obergrenze für die Absetzbarkeit von Schuldzinsen auf Immobiliendarlehen zwei weitere Forderungen der CSV im Tripartite-Abkommen untergebracht haben.

Selektivität Bei der großen Steuerdebatte im Juli wollte die DP ja noch gar keine Anpassung der Einkommenssteuertabelle an die Inflation, sondern selektive Steuerkredite für Haushalte mit geringen Einkommen. Die LSAP wollte die Anpassung ebenfalls nicht, zumindest keine „einfache“, weil die vor allem Besserverdienenden zugutekomme. Stattdessen forderte ihr Abgeordneter Dan Kersch eine progressivere mit zusätzlichen Gehaltsgruppen, bei der niedrige Einkommen entlastet und höhere proportional stärker besteuert würden. Auch die Grünen wollten eine „selektive“ Anpassung. Mit Selektivität oder Umverteilung hat die am Freitag beschlossene Erhöhung der Steuertabelle um 6,37 Prozent ab dem 1. Januar 2024 aber genausowenig zu tun wie der rückwirkende Steuerkredit zur Kompensation von zwei Indexstufen für das Jahr 2023. Auch die Verlängerung der Energiepreisbremse ist in keinerlei Hinsicht selektiv, geschweige denn ökologisch. Sowohl Blanche Weber vom Mouvement écologique als auch Carole Reckinger von der Caritas hätten sich im Gespräch mit dem Land eine Deckelung der staatlichen Gas- und Strompreiszuschüsse bis zu einem gewissen Verbrauchswert gewünscht, damit nicht die Haushalte am meisten davon profitieren, die die meiste Energie konsumieren.

Von den politischen Parteien hätte das vor allem die Grünen und die ökosozialistische Linke stören müssen. Die linke Abgeordnete Myriam Cecchetti wies am Dienstag bei der Diskussion über die Tripartite-Vereinbarung im Parlament zwar diskret darauf hin, dass die Maßnahmen weder sozial selektiv noch umwelt- und klimaverträglich seien, wegen ihrer engen Verbundenheit zum und ihrer elektoralen Abhängigkeit vom OGBL kann ihre Partei sich aber keine grundsätzliche Kritik an dem vermeintlich gewerkschaftsfreundlichen Abkommen erlauben. Und die Grünen? Auch ihre Sprecherin Josée Lorsché äußerte am Dienstag leise Kritik, ihre Minister/innen hatten sich am Freitag aber damit zufrieden gegeben, dass der Steuerfreibetrag der durch Fotovoltaikanlagen erzeugten Energie von zehn auf 30 Kilowatt-Peak erhöht wird; Vermieter, die ihre Wohnung in die gestion locative sociale überführen, künftig 75 statt 50 Prozent ihrer Mieteinnahmen steuerlich absetzen dürfen; und die Energieprämie für Geringverdiener verlängert wird, die diese in einer für sie aufwändigen Prozedur beantragen müssen und von deren Existenz viele nicht einmal wissen. Eine Deckelung der Strompreiszuschüsse kam für die Grünen nicht in Frage, weil darunter am meisten die leiden, die sich ein Elektroauto, eine Wärmepumpe oder andere stromintensive Geräte zur ökologischen Transition leisten. Eine Begrenzung der Gaspreissubvention erachten die Grünen zwar als wünschenswert, ihre Umsetzung scheiterte aber offenbar daran, dass nicht jeder Haushalt einen eigenen Gaszähler hat, wie es von den Grünen heißt. Um eine Pauschalgrenze festzulegen, fehle es an Daten über den individuellen Verbrauch.

Gerechtigkeit Weil aber nachgewiesen ist, dass reiche Menschen mehr Energie verbrauchen als arme – schon alleine weil sie in größeren Wohnungen leben und häufiger über energieintensive Accessoires verfügen – hätte die Regierung die soziale Selektivität über die Zusatzbesteuerung von hohen Einkommen herstellen können. Die Einnahmen hätte sie für ökologische oder soziale Zwecke umschichten können, wie sie es in sehr geringfügigem Maße bei der CO2-Steuer tut (obwohl die Auswirkungen der CO2-Bepreisung seit 2020 nicht mehr vom Statec untersucht wurden). Eine „große“ Steuerreform hätte es dafür nicht gebraucht. Eine solidarische Krisensteuer für Reiche oder eine substanzielle Erhöhung der Steuersätze ab einem bestimmten Einkommen (oberhalb der „Mittelschicht“) hätten schon gereicht. Allerdings fehlte der Regierung dafür die Courage.

Deshalb mutet es befremdlich an, wenn die LSAP nun so tut, als habe ausgerechnet sie die DP davon überzeugt, der Forderung der Gewerkschaften nach einer Anpassung der Steuertabelle an die Inflation nachzukommen. Vermutlich hofft sie dadurch, die Unterstützung des OGBL im Wahlkampf zurückzugewinnen, die sie durch die Aussagen ihrer Spitzenkandidatin Paulette Lenert zum „gedeckelten Index“ und wegen der Versäumnisse von Arbeitsminister Georges Engel bei der Reform des Arbeitsrechts verspielt hat. In Wahrheit war es aber die DP, die sich mit ihrer Rhetorik von „Harakiri“, „Sputt“ und „struktureller Reform“ politisch behauptet hat. Dass die einmalige Anpassung der Steuertabelle an die Inflation tatsächlich eine strukturelle Maßnahme ist, darf zumindest bezweifelt werden. Die Wiedereinführung der automatischen Anpassung zu fordern, hatten die Gewerkschaften im Vorfeld der Tripartite nicht gewagt (sondern erst danach). Und eine steuerliche Umverteilung zu verlangen, schon gar nicht. Obwohl damit der von DP-Finanzministerin Yuriko Backes ausgewiesene budgetäre Spielraum von 500 Millionen Euro zur Einhaltung der Schuldengrenze von 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts unter Umständen deutlich hätte erweitert werden können. Wenn der OGBL immer wieder behauptet, soziale Gerechtigkeit schaffe man nicht durch den Index, sondern durch Steuerpolitik, muss er sich nun vorhalten lassen, eine Steuerpolitik zu unterstützen, die die sozialen Ungleichheiten bestenfalls reproduziert, sie aber keinesfalls verringert (umso mehr Beschäftigte mit niedrigen Einkommen keine oder kaum Lohnsteuer zahlen und von einer Anpassung der Steuertabelle folglich wenig haben). Und wenn die LSAP sich damit brüstet, in der Regierung die teilweise Anpassung der Steuertabelle an die Inflation erwirkt zu haben, muss sie sich gleichzeitig eingestehen, dass die DP die noch im Juli von den Sozialisten geäußerten Forderungen nach einer Übergewinnsteuer oder nach steuerlicher Umverteilung geschickt zu verhindern wusste.

Kaafkraaft Denn die zusätzliche Besteuerung hoher Einkommen und von exzessiven Unternehmensgewinnen oder gar von Kapitaleinkünften, Vermögen und Erbschaften in direkter Linie hätte das Patronat nicht zugelassen (weil dadurch angeblich „individuelle und kollektive Talente“ abgeschreckt werden könnten). Deshalb gaben die Gewerkschaften und auch LSAP und Grüne sich am Freitag damit zufrieden, die Kaufkraft der Mittelschicht zu erhalten und vielleicht noch zu stärken. Das nütze auch der Wirtschaft, sodass selbst die UEL sich darüber freue, meinte Xavier Bettel am Freitag. Durch die Energiepreisbremse (von der kleine Betriebe direkt profitieren) seien die Lohnausgaben vorhersehbar, durch die staatliche Kompensation der Indextranche von voraussichtlich November 2023 bis Januar 2024 würden sie finanziell entlastet. Tatsächlich lassen die Tripartite-Maßnahmen große Teile der Wirtschaft jedoch kalt. Vielleicht erklärt das die räumliche Distanz, die Michel Reckinger bei der Pressekonferenz am Freitag zu Regierung und Gewerkschaften hielt. Die Hauptforderung des Patronats, „qu’il faudra également et impérativement s’attaquer aux problèmes structurels du pays, en particulier en matière de productivité et de compétitivité internationale“ (wie es in der Stellungnahme der UEL zum Tripartite-Abkommen heißt), ist eher mittel- bis langfristig ausgerichtet. Dazu gehört auch die Einschränkung oder Abschaffung der automatischen Lohnanpassung. Diese Diskussion wurde am Freitag zwar von der ABBL geführt, so kurz vor den Wahlen war sie jedoch selbst für den notorisch über Kompetitivitätsverlust klagenden Banken- und Finanzsektor nicht zu gewinnen.

Die Gewerkschaften und die „linken“ Parteien werden sich mittel- bis langfristig mit der Klärung einer anderen Frage beschäftigen müssen, die die Regierung in den vergangenen Jahren nur sehr zaghaft angegangen ist. Nämlich der, „wie Umweltsteuern eingeführt werden können, die sozial gerecht sind und nicht am Indexsystem scheitern“. Auch das Patronat wird sich eingehend mit der Frage befassen müssen. Die Präsidentin des Mouvement écologique, Blanche Weber, hatte sie kürzlich in einem Beitrag auf Improof, der neuen Reflexionsplattform der Salariatskammer, gestellt. Gebraucht werde eine offene, gegebenenfalls kontroverse Diskussion, im Rahmen derer gemeinsam nach Wegen gesucht wird, schreibt Weber. Zu den Tripartite-Gremien ist ihre Organisation bislang nicht zugelassen. Dabei könnte sie der Diskussion um Kaafkraaft und Sputt eine neue und längst überfällige Wendung geben. Und vielleicht auch die Wachstums-Debatte wieder ankurbeln, die die Kampagne der Kammerwahlen von 2018 bestimmt hatte und seitdem im Sand verlaufen ist.

Luc Laboulle
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