Mittelmeer-Streit

Zeit für couragierte Diplomatie

d'Lëtzebuerger Land du 11.09.2020

Die EU wird sich in den kommenden Wochen intensiv mit Problemen beschäftigen, vor denen die Mitgliedsstaaten bisher den Kopf in den Sand gesteckt haben. Auf dem EU-Gipfel am 24. und 25. September in Brüssel wird darüber beraten, wie die EU auf die steigenden Spannungen im östlichen Mittelmeer und im Dreieck Griechenland-Zypern-Türkei reagieren soll. Von eventuellen Sanktionen gegen den Beitrittskandidaten Türkei ist die Rede – ein Novum für die EU.

Der Konflikt zwischen Türken und Griechen geht weit zurück. Ein Bürgerkrieg führte im 19. Jahrhundert zur Unabhängigkeit Griechenlands vom Osmanischen Reich. Die Türken haben nie vergessen, wie europäische Mächte den griechischen Aufstand tatkräftig unterstützten und beäugen Europa mit Skepsis.

Einige Jahre später hatten die Osmanen die Kontrolle über Zypern vorübergehend ihren britischen Verbündeten überlassen, die sie von dort aus auf der Krim im Kampf gegen Russland unterstützte. Bald wechselten jedoch die Allianzen und Zypern blieb unter britischer Verwaltung. Die Türken fühlten sich reingelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entließ London Zypern, zusammen mit anderen ehemaligen Kolonien, in die Unabhängigkeit, ohne zuvor die ethnischen und religiösen Konflikte unter der Inselbevölkerung gelöst zu haben.

Mit dem Lausanner Vertrag von 1923 hatte man geglaubt, eine gute Grundlage für nachhaltigen Frieden gefunden zu haben. Doch unter der Oberfläche brodelte es weiter. Stets sorgten die griechischen Inseln in greifbarer Nähe der türkischen Ägäis-Küste, das ethnisch gemischte Zypern sowie die Revisionsgelüste türkischer Nationalisten und Konservativen für Spannung.

Innenpolitische Krisen führten oft zum Ausbruch offener Feindschaft zwischen Türken und Griechen. Politiker auf beiden Seiten wissen, wie ihre Staatsbürger auf internationale Krisen mit großen Emotionsausbrüchen reagieren, und nutzen diese aus, um von eigenen Problemen abzulenken. Wie es heute der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan demonstriert. Dabei scheut er nicht einmal davor zurück, Griechenland und Frankreich militärisch zu drohen oder Grenzkorrekturen zu fordern.

Gleichwohl sind die Probleme echt. Auch die Türken haben teilweise berechtigte Interessen, die bisher außer Acht gelassen wurden. Der Zugang der Türkei zum Ägäischen Meer ist seit Jahrzehnten ungelöst. Die Griechen lehnen internationale Vermittlungen oder gerichtliche Lösungen ab. Ähnlich unversöhnlich zeigen sie sich, wenn es um Ängste der türkischen Zypriot/innen geht.

Nun muss sich die EU bemühen, den Konflikt am östlichen Mittelmeer zu entschärfen. Die Ausgangslage ist ungünstig. Denn die EU muss einseitig versuchen, die aggressive Haltung des türkischen Regimes einzudämmen, ohne Ankara, einen wirtschaftlich, militärisch und politisch wichtigen Verbündeten, vor den Kopf zu stoßen. Eine die Interessen ausgleichende Idee fehlt jedoch.

Dass die Nato, die früher die beiden Kampfhähne immer beruhigte, diesmal scheiterte, hat viele Beobachter überrascht. Das ist ein Hinweis darauf, dass dieser Konflikt, ebenso wie viele andere in direkter Nachbarschaft Europas, immer unlösbarer und gefährlicher wird. Was hat sich geändert? Die Antwort liegt sowohl in Ankara als auch in einigen europäischen Hauptstädten.

Nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelte sich die Türkei wirtschaftlich und militärisch rasch zu einer Regionalmacht. Die Strategie, diese aufsteigende Macht in die EU einzubinden, scheiterte hauptsächlich am Widerstand europäischer Konservativer. Sie glaubten, das Land würde weiterhin die Südostflanke Europas schützen, ohne an europäischen Entscheidungen teilzuhaben. Sie irrten sich.

Die anti-europäischen Tendenzen in der Türkei verfestigten sich. Der Band, der die Türkei mit dem Westen verband, erodierte. Ankara strebt heute eine führende Rolle im Nahen Osten und im Maghreb an, als Alternative zu der gescheiterten europäischen Integration. Alte Bilder aus osmanischer Zeit werden in den Köpfen der Türken wieder wach. Man träumt von einer zweiten Auflage des ehemaligen Imperiums. Die Expansionsgelüste explodieren.

Der aktuelle Konflikt ist ein Auswuchs dieser Expansionsstrategie. Ermutigt davon, dass die EU türkische Invasionen im Norden Syriens brav duldete, versucht sich das Regime jetzt in Libyen. Die regionalen Konkurrenten der Türkei probieren dagegen, das Land in Anatolien zu isolieren. So verkommt das östliche Mittelmeer zum Zentrum der Spannungen. Der griechisch-türkische Zwist liefert nur den Vorwand.

Dass nun auch das Ägäische Meer Teil dieses Streits wird, liegt an der abenteuerlichen Politik Athens. Es provoziert Ankara ununterbrochen – zuletzt mit Andeutungen, man überlege, das Hoheitsgebiet des Landes in der Ägäis auf zwölf Meilen auszubreiten, wohlwissend, dass die Türkei dadurch ihren Zugang zum Meer vollkommen verlieren würde. Athen geht davon aus, Europa werde stets auf seiner Seite stehen. Zunächst scheint diese Rechnung aufzugehen. Denn Frankreich will die Türkei in Nordafrika ebenfalls bremsen und unterstützt Athen mit Säbelrasseln. Ob das eine nachhaltige Strategie ist, ist jedoch zweifelhaft.

Aus europäischer Sicht wäre es besser, nunmehr die unterschwelligen griechisch-türkischen Konflikte endgültig zu lösen. Nur so kann Europa sicher sein, dass diese nicht irgendwann einen Vorwand für einen militärisch ausufernden Konflikt liefern.

Dafür müssen sie aber ab jetzt mutiger handeln. Sanktionen gegen die Türkei würden wahrscheinlich helfen. Aber einseitige Aktionen reichen nicht aus. Nur wenn sie mit Lösungen in der Ägäis und auf Zypern begleitet werden, die auch für Ankara akzeptabel sind, werden Türken und Griechen langfristig in Frieden leben. Das ist jedoch nur mit erhöhtem Druck auf Athen und Nicosia möglich. Das erfordert viel Diplomatie und Mut. Ob die EU diese Fähigkeiten besitzt, ist höchst zweifelhaft.

Cem Sey
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