Binge Watching

Blutsauger

d'Lëtzebuerger Land du 02.07.2021

Vampire sind fast so alt wie der Film selbst, sie bevölkerten die Leinwände bereits zu Stummfilmzeiten, mit Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1922) erreichte der Vampir einen ersten filmischen Höhepunkt, nicht umsonst wird die Geburtsstunde des Horrorkinos gerne mit dem deutschen Film-Expressionismus in Verbindung gebracht. Seither wurde der Vampir immer wieder für Film und Fernsehen adaptiert. Seine Wiederkehr erlebt er zurzeit auf Netflix: Die Schöpfer der Miniserie Dracula, Mark Gatiss und Steven Moffat, haben mit Sherlock bereits den berühmten Detektiven des viktorianischen Zeitalters ins 21. Jahrhundert transportiert. Mit der Serie Dracula nehmen sie sich den berühmt-berüchtigten transsilvanischen Grafen vor, den die Popkultur bereits unzählige Male interpretiert hat. Allein die dreiteilige Gliederung der Erzählung zu je 90 Minuten zeugt von dem Anspruch, beides in sich zu vereinen: die Reverenz an den historischen Stoff und das Umschreiben des Originals. Mark Gatiss und Steven Moffat streben ein Austarieren von wehmütiger Hommage und ehrgeiziger Neuinterpretation an. Die erste Folge schreibt sich ganz in die Linie des klassischen Horrorfilms ein. Tatsächlich sind die Standardsituation der Ankunft des ahnungslosen Landvermessers Jonathan Harker (John Heffernan) im Schloss des Grafen Dracula (Claes Bang) und dessen darauffolgender Auftritt beinahe identisch mit der Universal-Vorlage von 1931.

Claes Bang gibt diesen Dracula eindrucksvoll, er vereint das Böse und das Galante, das Humoristische mit dem Furchterregenden in einer Art Bonvivant, dem die Zeichen der Zeit sozusagen vorauseilen. Dem Blutsauger gegenüber steht hier ferner eine Frau, in Person der ganz unangepassten Nonne Agatha Van Helsing (Dolly Wells); sie ist dem Grafen in Wortwitz und Schläue ganz und gar ebenbürtig. Und bezeichnenderweise verlassen die Macher denn auch den Schutz des gotischen Horrors, der für die Figur so bedeutsam ist. Dem Trend der Zeit gemäß muss in diesem Beitrag zur Mythologisierung des Vampirs der Figur nämlich etwas Neues abgewonnen werden, und so war es wohl unerlässlich, die Handlung in die Gegenwart zu verlegen; ein Umstand, der aber nicht die Entfremdung des transsilvanischen Vampirs von seiner Umwelt steigert. Vielmehr geht die Figur in dieser neuen Welt auf: Triebnatur und fortgeschrittene Zivilisation schließen sich hier nicht aus, sie gehen vielmehr ineinander über, ergänzen sich förmlich. Der Wille zum dekonstruktivistischen Spiel dominiert denn auch besonders im dritten Teil der Serie, in der der Blutsauger im 21. Jahrhundert ankommt.

Ein Blick auf die Rezeption der Serie genügt, um festzustellen, dass Gatiss und Moffat mit Dracula nicht mehr an den Erfolg der BBC-Serie Sherlock vor rund zehn Jahren heranreichen können. Mitunter ist dieser Modernisierungsschub forciert, wenig originell und zusehends repetitiv. So darf auch die Miniserie Dracula als ein Versuch der Modernisierung des Stoffes gelten, tatsächlich filmästhetisch wird das Ganze aber nie, egal wie oft da noch versucht wird, blutrote Sonnenuntergänge abzurufen oder mittels der willkürlichen Einfärbung einzelner Einstellungen die Erzeugung von Atmosphäre oder Stil anzustreben. Künstlerisch weitaus ambitioniertere Verfilmungen des Stoffes gibt es freilich zur Genüge. Wenn neben der Twilight-Reihe (2008-2012) oder der kurzlebigen Serie Dracula (2013) mit Jonathan Rhys Meyers oder dem enttäuschenden Kinofilm Dracula: Untold (2014) mit Luke Evans nun aus der Feder von Mark Gatiss und Steven Moffat ein weiterer Beitrag entstanden ist, dann wird die sehr manieristische Francis Ford Coppola-Verfilmung Bram Stoker’s Dracula von 1992, mit dem hervorragenden Gary Oldman, seiner äußerst eindrücklichen Bildgestaltung, dem opulenten Kostümdesign und seiner reich texturierten Filmmusik von Wojciech Kilar wohl noch lange seine Sonderstellung behaupten können.

Marc Trappendreher
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