Die Pensionsreform soll die Rentenleistungen stärker an die Lebenserwartung binden. Das tut sie auch, wie Beispiele konkreter Erwerbsbiografien zeigen

À la carte

d'Lëtzebuerger Land du 10.02.2012

Weil alle immer älter würden und Pensionäre immer mehr Zeit hätten, ihre Rente zu genießen, müssten die Aktiven ein wenig länger arbeiten, damit die Solidargemeinschaft der Rentenversicherung nicht aus der Balance gerät. Das ist einer – nicht der einzige – der Ansätze, mit denen die Regierung das Pensionssystem „zukunftssicher“ machen will.

Anhand der Reform-Rentenformel der Generalinspektion der Sozialversicherung hat d’Land typische Erwerbsbiografien mit ihren Beitragskarrieren simuliert, um zu zeigen, welche Alternative die „Pension à la carte“ darstellt: die Wahl, für einen im Vergleich zu vor der Reform angeblich unveränderten Rentenbezug länger zu arbeiten, oder schon mit den laut Gesetz nötigen Beitragsjahren in Pension zu gehen und eine Rentenkürzung in Kauf zu nehmen. Wie die Reform sich für im Drei-Schicht-System Tätige auswirkt, lässt sich ebenfalls demonstrieren.

Die Rentenhöhen wurden zum ak-tuellen Stand von Reallöhnen und Index berechnet. Die Erwerbsbiografien sind repräsentativ für Wirtschaftsbranchen, in ihren Details aber fiktiv. Übereinstimmungen der Namen mit realen Personen wären zufällig.

Joao B. arbeitet als ungelernte Hilfskraft auf dem Bau. 1972 war er als Zwanzigjähriger aus Portugal nach Luxemburg emigriert und hat seitdem stets auf dem Bau gearbeitet. Im Herbst wird er 60 und geht nach 40 Dienstjahren in Pension. Wie Joao B. damals, werden ungelernte Hilfskräfte auf dem Bau auch heute noch zum unqualifizierten Mindestlohn eingestellt und steigen höchstens bis zum anderthalbfachen Mindestlohn auf. Im Schnitt wird Joao B. den 1,25-fachen Mindestlohn verdient haben. Nach 40 Beitragsjahren kann er mit einer Rente von 2 153 Euro monatlich rechnen.

Sein 17 Jahre jüngerer Arbeitskollege Julio T. käme bei derselben Lohnlaufbahn nach der Pensionsreform nur auf 2 090 Euro, falls er im Jahr 2029 ebenfalls schon nach 40 Dienstjahren in Pension gehen wollte. Arbeitete er anderthalb Jahre länger, wie die Pension à la carte suggeriert, stiege seine Rente auf 2 179 Euro und läge um 26 Euro über der von Joao B. Dieses Prinzip träfe auch für Antonio A. zu, der heute 23 ist. Ließe er sich 2049 nach 40 Jahren pensionieren, wäre seine Rente mit 1 945 Euro um fast 200 Euro kleiner als die von Joao B. Nach weiteren drei Beitragsjahren stiege sie auf 2 163 Euro im Monat, zehn Euro mehr, als Joao B. ab kommenden Herbst erhält.

Dass der Zugewinn in der Rente, den ein freiwillig verlängertes Arbeitsleben verspricht, über die Jahrzehnte kleiner wird, ist kein Zufall: Die Pensionsreform unterstellt, die durchschnittliche Lebenserwartung werde in Luxemburg zwischen 2010 und 2060 um sieben Jahre steigen. Verlängert sich damit der Rentengenuss, könne eine verringerte Rente hingenommen werden, weil über die Jahre trotzdem viel an Leistung empfangen würde.

Doch nur für Geringverdiener sorgt die Reform dafür, dass eine im Jahr 2052 nach 43 statt 40 Beitragsjahren und eine im Jahr 2030 nach 41,5 statt 40 Beitragsjahren bezogenene Rente höher ausfällt als eine nach 40 Jahren vor der Reform. Zwar liegen zu dieser Frage keine Zahlen für Luxemburg vor. Doch die Regierung scheint davon auszugehen, dass auch hierzulande sozial Schwache im statistischen Schnitt früher sterben als Vermögende.

Für Fernand S. und Jean F., Mechaniker in einem metallverarbeitenden Industriebetrieb, sieht die Rechnung schon ein klein wenig anders aus. Beide wurden, ihre Lehrzeit inklusive, bereits mit 17 Beitragszahler. Fernand S., der Ältere, wird im Sommer 57 Jahre alt und lässt sich nach 40 Dienstjahren pensionieren. Im Schnitt hat er den doppelten Mindestlohn verdient. Das ergibt nach 40 Jahren eine Rente von 3 147 Euro.

Sollte sein jüngerer Kollege Jean F. im Jahr 2029 ebenfalls nach 40 Jahren pensioniert werden wollen, betrüge seine Rente nur 3 005 Euro. Arbeitete er anderthalb Jahre länger, stiege sie auf 3 144 Euro und wäre quasi genauso hoch wie die von Fernand S. Hätte dagegen im Jahr 2052 ein Arbeitnehmer mit der gleichen Karriere drei Jahre länger gearbeitet als die eigentlich nötigen 40 Jahre, läge seine Rente bei 3 063 Euro. Das sind zwar deutlich mehr als die 2 798 Euro Rentenanspruch, die im Jahr 2049 nach 40 Beitragsjahren entstünden, aber fast 80 Euro weniger als Fernand S. nach 40 Beitragsjahren vor der Reform erhält.

Was sich hier auswirkt, ist die nicht gerade geringfügige Verkleinerung jenes Faktors in der Rentenformel, der die im Laufe einer Karriere insgesamt geleisteten Beiträge berücksichtigt. Im Gegenzug werden Pauschalanteile an den Renten erhöht, die beitragsunabhängig sind. Die Pauschalanteile sind verhältnismäßig klein, führen bei Geringsverdienern wie Julio T. und Antonio A. jedoch dazu, dass ihre Rente nach freiwilliger Beitragsverlängerung höher wird als eine vor der Reform. Bei Jean F. sorgen sie dafür, dass seine Rente im Jahre 2030 so hoch ist wie eine im Jahr 2012. 2052 entsteht eine Differenz zu 2012 auch nach drei zusätzlich gearbeiteten Jahren. Bleibt den Rentnern dann zu wünschen, dass sie gesund bleiben und ihre Rente tatsächlich lange genießen können.

Kaum überraschend wirkt der Anreiz, länger zu arbeiten, in höheren Gehaltsgruppen um so stärker. Bankangestellte wie Marco R. und Monica M. gelangen nicht selten schon nach dem Abitur, im Alter von 20 Jahren zum ersten Job. Zu Beginn der Kar-riere gibt es nur den Mindestlohn, doch dann steigt das Gehalt und gegen Ende wird häufig der vierfache Mindestlohn oder mehr verdient. Mit einem dreifachen Mindestlohn im Schnitt seiner Laufbahn kann der sechzigjährige Marco R., der noch dieses Jahr pensioniert wird, nach 40 Beitragsjahren mit 4 574 Euro Monatsrente rechnen. Monica M. dagegen steht 2029 vor der Wahl: Pensionierung nach 40 Dienstjahren und 4 369 Euro Rente, oder nach weiteren anderthalb Jahren die Rente auf 4 609 Euro erhöht sehen.

Im Jahre 2049 würde das pekuniäre Argument, drei weitere Jahre zu arbeiten, noch stärker: Nach 40 Beitragsjahren läge die Rente bei 3 695 Euro, nach 43 Jahren dagegen um fast 600 Euro höher, bei 4 535 Euro.

Natürlich sind diese Rechnungen schematisch und haben nichts damit zu tun, wer in welcher Branche unter welchen Voraussetzungen länger arbeiten kann. An dieser Stelle interessiert etwas anderes: Monica M. würde nach 41,5 Beitragsjahren eine höhere Rente beziehen als der vor der Reform schon nach 40 Jahren pen-sionierte Marco R. Dagegen hatte beim Fallbeispiel zuvor Jean F. nach der um dieselbe Dauer verlängerten Beitragszeit eine kleinere Rente in Aussicht als der noch vor der Reform nach 40 Dienstjahren pensionierte Fernand S. Wie kann das sein?

Grund dafür ist, dass Jean F. schon mit 17 Beitragszahler wurde, Monica M. dagegen erst im Alter von 20 Jahren. Mit 58,5 Jahren schon pensioniert zu werden, bringt Jean F. eine gewisse Einbuße ein, die er, nach dem Ansatz der Pensionsreform mit mehr Jahren in Rente kompensieren könne. Vielleicht beginnt er sich ja für Nordic Walking zu interessieren.

Dass eine Führungskraft in einem Industriebetrieb wie Lucienne S. schon mit 60 in Pension geht, kommt, den Erhebungen der Sozialversicherung nach, so selten nicht vor. Auf jeden Fall entspräche es einem Pensionssystem, das jedem in diesem Alter eine Pensionierung ermöglicht, sofern entweder eine 40 Jahre lange Beitragskarriere nachgewiesen werden kann oder „Ergänzungszeiten“ für Ausbildung. Lucienne S. hat ein fünfjähriges Universitätsstudium absolviert, das sie abschloss, als sie 25 war. Mit fünf Jahren Ergänzungszeit kann sie bereits nach 35 Beitragsjahren in Pension gehen, und das wird Lucienne S. noch vor den Sommerferien tun.

Weil sie im Schnitt ihrer Karriere den vierfachen Mindestlohn bezog , hat Lucienne S. im Sommer Anspruch auf 5 089 Euro Monatsrente. Wäre sie jünger und erreichte ihre 35 Beitragsjahre erst im Jahr 2029, könnte sie sich entweder mit 4 841 Euro im Monat pensionieren lassen oder nach anderthalb weiteren Jahren 5 104 Euro beziehen. Dass dieser Rentenbetrag leicht über dem nach 35 Beitragsjahren und fünf Ausbildungsjahren im alten System liegt, hat wiederum damit zu tun, dass dann 61,5 Lebensjahre ins Kalkül eingehen und nicht 60. Stünde dagegen eine Beitragszahlerin wie Lucienne S. im Jahre 2049 vor der Entscheidung, sich mit 60 pensionieren zu lassen oder noch drei Jahre im Beruf anzuhängen, läge die Monatsrente bei 4 548 Euro im ersten Fall und bei 4 918 Euro im zweiten: Leicht weniger als vor der Reform also, weil die davon ausgeht, dass die Lebenserwartung weiter steigt.

Ob die Reform auch von Arbeitnehmern im Drei-Schicht-System verlange, länger zu arbeiten, obwohl deren Job doch anstrengend genug sei, war eine der kritischen Fragen der Gewerkschaften an den Sozialminister gewesen, nachdem der im März vergangenen Jahres die „Leitlinien“ zur Pensionsreform vorgestellt hatte. Angesichts des fertigen Reformentwurfs muss die Antwort „im Grunde nein“ lauten.

Im Grunde nein, weil die Reform nichts daran ändert, dass nach 20 Jahren Nachtschicht ein Anspruch auf drei Jahre Frührente ensteht, die der Beschäftigungsfonds übernimmt. Wer diesen Anspruch geltend macht, verzichtet auf eine Option, länger zu arbeiten. Eine Krankenschwester wie Monique L. zum Beispiel, die in einem Spital arbeitet, seit sie 20 ist, wird in zwei Monaten nach 37 Dienstjahren in Frührente gehen, als habe sie 40 Jahre lang Beiträge in die Pensionskasse gezahlt.

Diese Möglichkeit besteht auch nach der Pensionsreform. Allerdings sorgt diese, weil die eingezahlten Beiträge weniger stark berücksichtigt werden, für sinkende Anfangs-Rentenhöhen. Für eine Krankenschwester in Halbtagsanstellung, bei der im Schnitt der anderthalbfache Mindestlohn verdient wird, läge der Rentenbetrag nach 37 Dienstjahren bei 2 423 Euro vor der Reform. 2 396 Euro wären es bei einer Frühverrentung im Jahre 2030 und 2 198 Euro, wenn die Frührente im Jahr 2052 angetreten würde. Wer dem Gedanken vom längeren Rentengenuss durch höhere Lebenserwartung dann nicht zu folgen vermag und eine Rente in dieser Höhe nicht zu akzeptieren bereit wäre, müsste wahrscheinlich auf einen Teil der Frührente verzichten und tatsächlich länger arbeiten.

Peter Feist
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