Kino

Machtapparat und Zivilcourage

d'Lëtzebuerger Land vom 13.05.2022

Leave No Traces bebildert ein einschneidendes Ereignis der polnischen Vergangenheit: Der Film zeigt eindringlich, wie der Mensch zum Opfer eines totalitären Staatsapparats wird, wie da ein Räderwerk ineinandergreift, um das menschliche Individuum zu zerbrechen. Basierend auf realen Ereignissen im Warschau des Jahres 1983 begleitet Regisseur Jan P. Matuszynski den Abiturienten Grzegorz Przemyk (Mateusz Górski), Sohn einer Solidarność-Anhängerin, der von der Polizei verhaftet wird, weil er sich nicht ausweisen will. Er weiß, dass er das nicht muss, er kennt seine Bürgerrrechte, doch die Polizei prügelt rücksichtslos auf ihn ein. Grzegorz stirbt an seinen Verletzungen. Jurek (Tomasz Zietek), ein Schulfreund, wird in die Ereignisse verwickelt und ist der einzige Zeuge des Mordes. Die Behörden versuchen die Gewalttat zu vertuschen und wollen Jurek zum Schweigen bringen…

Die Story ist in gewisser Weise die Maschine des Films, sie bringt ihn auf Touren und setzt seine Figuren in Bewegung. Das reibungslose Ineinandergreifen des Räderwerkes aus Polizei, Medizin und Geheimdienst bis hin zur Justiz strukturiert den Film. Abwechselnd wird die Zivilcourage Jureks der Willkür des Staatsapparats entgegensetzt, dies äußerst repetitiv – Leave No Traces (Originaltitel: Zeby nie bylo sladów) vermittelt so besonders auffällig in seiner Szenenabfolge die Mechanik des Apparats, ein Staatsystem, das primär auf das Funktionieren und die Erfüllung seiner Zielsetzung ausgerichtet ist, Spuren zu verwischen, den freien Willen zu unterdrücken und mithin die Wahrheit. Umso eindringlicher wirkt, wie Regisseur Jan P. Matuszynski die Polizeigewalt visuell in Szene setzt – nämlich gar nicht. Anstatt den Polizeibeamten als Ausdruck des Machtapparates visuell zu gewichten, etwa durch die gängigen Mittel der Untersicht, verweilt die Kamera während des Gewaltakts, frontal positioniert, überwiegend auf Augenhöhe mit Jurek, während im Raum nebenan auf Grzegorz eingeprügelt wird. Regisseur Matuszynski, der neben seiner Arbeit fürs Fernsehen auch Dokumentarfilme realisierte, erreicht somit zu keinem Moment eine Ästhetisierung, noch nicht einmal eine Dramatisierung der Gewalt, sondern eine involvierte und zugleich distanzierte Registrierung ebendieser – ein Stilmittel, das die Erzählhaltung des gesamten Films bestimmen wird. So wie Jurek zum ohnmächtigen Beistehenden gemacht wird, ergriffen und doch ohne Möglichkeit zur Einflussnahme, so ergeht es auch dem Zuschauer. In Ansätzen bemüht Leave No Traces die Muster des psychologischen Thrillers. Szenen des Eindringens in den privaten Raum werden beispielsweise mit aufreibender Musik akzentuiert.

Die überwiegende Normalsicht der Kamera hat den Zweck, dem Publikum das Geschehen möglichst dicht und direkt vor Augen zu führen, so dass es sich seiner Beobachterposition bewusst wird. In der Folge betrachten wir mit einer Mischung aus Entsetzen und Gleichgültigkeit das Geschehen; Gleichgültigkeit, weil wir innerlich spüren, dass Jurek keine Gerechtigkeit erfahren wird in einem System, in dem die Rechtstaatlichkeit gegenstandslos ist. Entsprechend hüllt Matuszynski seinen Film in eine kalte und triste Farbszenerie: Graublau-Töne dominieren den Film, in den Uniformen und Anzügen der Behördenträger, den Staatsgebäuden, wo in verklausulierter Sprache eine Diffamierungskampagne bis in die Ebenen der Justiz angezettelt wird. Exemplarisch wird das während des Prozesses, wo alles in einer Farce zu kulminieren scheint – der Gerichtssaal wird gleichsam zum Ort, an dem sich das Erkalten der Gesellschaft manifestiert. Dem entgegen steht die Trauerfeier für Grzegorz Przemyk, die zum Ausdruck einer gewaltlosen Demonstration gegen ein diktatorisches Regime wird; mit Leave No Traces zeichnet Jan P. Matuszynski eine Anfangsbewegung nach, in deren Folge sich die Staaten Osteuropas sukzessive befreien werden.

Marc Trappendreher
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