LEITARTIKEL

Total falsch

d'Lëtzebuerger Land vom 09.07.2021

Etwas plagte die stets um ausgewogene und möglichst objektive Berichterstattung bemühte Redaktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Radio 100,7 schon das schlechte Gewissen, als sie den ADR-Abgeordneten Fernand Kartheiser am Mittwochmorgen auf ihrer Antenne seine These verbreiten ließ, DP, LSAP, Grüne und CSV wollten mit der Verfassungsreform das von der ADR so verhasste Auslännerwalrecht durch die Hintertür einführen. Nachdem der CSV-Verfassungsexperte Léon Gloden diese vermeintliche Verschwörung der vier großen Parteien bereits im Streitgespräch zurückgewiesen und als Fake News entlarvt hatte, musste am Mittag der Verfassungsrechtler Luc Heuschling noch einmal herhalten, um selbst die letzten Zweifel aus dem Weg zu räumen, dass an den Behauptungen Kartheisers tatsächlich etwas dran sein könne. Kartheisers These sei „vum wëssenschaftleche Standpunkt hir total falsch“ und überhaupt sei es eine parteipolitische Diskussion ohne wissenschaftliche Grundlage, betonte der Professor der Uni Luxemburg.
Nun weiß auch Heuschling, dass es der ADR in keiner Weise um Wissenschaft geht. Die Partei wollte lediglich ihre Daseinsberechtigung verteidigen, die seit der Einführung der Rentengleichheit nur noch auf dem Mythos beruht, sie und der ihr sehr nahe stehende Wee 2050 seien die Gewinner des Referendums von 2015 und 80 Prozent der Wähler/innen würden ihre Ansichten teilen. Dass sich die ADR dafür ausgerechnet die Verfassung ausgesucht hat, liegt nahe, denn die geplante Revision hätte eigentlich mit einem weiteren großen Referendum verabschiedet werden sollen, das der ADR erneut die Gelegenheit geboten hätte, sich auf polarisierenden Themen wie Nationalität, Sprache, Familie und Monarchie politisch und ideologisch zu profilieren.

2019 hatten die drei Mehrheitsparteien mit der CSV ausgehandelt, statt der großen Revision eine schrittweise Reform ohne Volksbefragung durchzuführen. Mit dieser List wollten sie verhindern, dass die Wähler/innen – anstatt über die komplizierte Verfassung zu urteilen – sich anhand des Referendums an „Gambia“ rächen, weil der Staat ihnen eine Baugenehmigung in einer Grünzone verweigert hat oder seit der Einführung der CO2-Steuer die Tankfüllung ein paar Cent teurer geworden ist.

Sollte es der ADR gelingen, 25 000 Wähler/innen zu versammeln, um ein Referendum zu erzwingen, könnte sich diese List im Nachhinein als doch nicht so klug erweisen. Das scheint zurzeit aber eher unwahrscheinlich, denn 25 000 wahlberechtigte Bürger/innen wären rund zehn Prozent der Gesamtwählerschaft. Ob so viele Luxemburger die reaktionären Werte der ADR teilen oder ihren nachweislich falschen Behauptungen Glauben schenken, ist zu bezweifeln.

Eigentlich müsste die ADR zufrieden sein mit den Reformen, die die vier großen Parteien untereinander ausgehandelt haben. Denn im Vergleich zu anderen europäischen Staaten und selbst zu der noch bis 2019 geplanten großen Verfassungsrevision ist der nun vorliegende Text durchaus reaktionärer. Anstatt sich an Schweden zu orientieren, wo der König nach der Verfassungsreform von 1974 weder das Recht hat, Gesetze zu promulgieren, noch an der Regierungsbildung beteiligt ist, hat das Luxemburger Parlament sich an der belgischen Konstitution inspiriert, die dem Monarchen vergleichsweise weitreichende Befugnisse einräumt. In Luxemburg konnte die CSV sogar durchsetzen, dass der in der Verfassungsrevision verwendete neutrale Begriff Staatschef wieder durch Großherzog ersetzt wird, wodurch die Monarchie zumindest symbolisch gestärkt bleibt.

Wenn eine Partei das Recht hätte, sich zu beschweren, dann wäre es wohl déi Lénk, die sich im Gegensatz zur ADR vor fünf Jahren tatsächlich die Mühe gemacht hatte, einen vollständigen alternativen Verfassungsvorschlag zu deponieren, der die über 100 Jahre alte liberale Forderung nach der Einführung einer Republik wieder aufgreift und vorschlägt, die Monarchie durch einen repräsentativen Staatspräsidenten zu ersetzen, bei dessen Wahl die Gendergleichheit berücksichtigt würde. Weder die Regierung noch der Staatsrat ließen sich dazu hinreißen, diesen progressiven Vorschlag zu begutachten oder ernsthaft dazu Stellung zu beziehen. Auch ein Referendum ist nicht geplant.

Luc Laboulle
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