Symptome im Internet

Hypochondersperre

d'Lëtzebuerger Land du 17.06.2016

Mitten in der Nacht stoße ich auf eine Furcht erregende Meldung, etwas Innovatives natürlich. Können die Erfinder_innen nicht endlich aufhören mit dem Erfinden, danke, wir haben schon alles, Tintenfässer und Kaffemaschinen, und auch das Bier ist schon erfunden. Suchmachinen suchen für uns nach Krankheiten, sie suchen und finden das Symptom, nach dem wir gesucht haben, letzte Nacht, letztes Jahr, und kombinieren raffiniert. Dann bieten sie uns eine passende, maßgeschneiderte Krankheit an, bitte schön. Während wir also gerade gähnend die Mails durchstöbern oder Hunde liken, kommt die dringende Empfehlung, die Warnung. Sofort die nächste Notaufnahme aufsuchen! Während der Angstschweiß ausbricht, was ist das jetzt wieder für ein Symptom?

Viel Spaß, Suchtmaschine! denke ich noch trotzig. Du wirst kollabieren, du wirst zu stottern beginnen, spastische Zuckungen bekommen. Der Symptom-Cocktail wird schwer verdaulich sein, das wirst du nie überleben.

Es ist aber auch zu verlockend: Nur ein paar Klicks, und schon kriegt man eine Krankheit verklickert. Ausgefallene, exotische oder triviale Volkskrankheiten. Früher war es viel umständlicher, zu einem Symptom zu kommen, man musste tonnenschwere Gesundheitslexika nach Hause schleppen. Jetzt ist es praktischer, alles ist im Netz, Krebse kommen angeschwommen, Pilze, eine große Palette an Parasit_innen. Von Klick zu Klick gerät man immer tiefer in eine üppig schillernde Fauna und Flora, wulstige Geschwülste wuchern einem entgegen, Augäpfel wölben sich bedrohlich, hier schwillt was, dort quillt was. Hier ist es etwas undicht, da wächst etwas komplett Unpassendes. Man kann sich alles bequem auf Fotos anschauen. Die Midnight Horror Picture Show.

All die Körperbestandteile, es gibt enorm viele davon. Meter lange Gedärme, acht Quadratmeter Haut, allein schon die seInfo haut eine um. Auf der Haut wimmelt es von Verdächtigen! Was sich alles zusammenbrauen kann in entlegenen Gebieten. Wie soll man da den Überblick behalten, in der Praxis? Man kann doch nicht rund um die Uhr mit der Lupe auf der Lauer liegen, man muss ja auch noch für sein Überleben sorgen, anderweitig, oder schlafen.

Die irdische Hülle ist auf jeden Fall grundsätzlich verdächtig, detektivisch muss man den potenziellen Tatort auskundschaften. Prävention nennt man das. Oder Vorsorge. Man sorgt die ganze Zeit vor. Symptomaten bringen eine mit einer schwarzen Liste schon mal auf die richtige Piste. Für Fortgeschrittene gibt es Differenzialdiagnosen, was noch alles sein könnte. Es gibt schließlich auch seltene Krankheiten, abseits vom Mainstream. Kampagnen werden lanciert um das Bewusstsein dafür zu schärfen, sie werden nämlich leicht übersehen.

Und all die Löcher! In die muss unbedingt reingeschaut werden, mit einem Fernrohr, besonders in ein sehr wichtiges. Und wenn man, uff!, noch mal Gnadenfrist, ins pralle Leben zurück hüpfen will, zu einem großen Eisbecher, lächelt ganz sicher eine adrette Dame in Weiß von einem Plakat und erinnert eine an Körperbestandteile, die man ebenfalls noch hat. Okay, schnell mal guggeln.

Denn selbst wenn man sämtliche Ausschlussverfahren anwendet. gibt es keine absolute Garantie, die Ärzteschaft übernimmt keine Verantwortung. Dass die Organorganisation hundertprozentig unter Kontrolle ist. Zellen können sich jeden Moment, während man sich am Kopf kratzt oder eine Sinfonie hört, zu Terrorzellen entwickeln. Zu Todeszellen, zu Todeskommandos. Manche Geschwülste kriegen gar Töchter. Da muss man ja paranoid werden!

Der gute Onkel Doktor, der leider schon ausgestorben ist, lacht dröhnend. „Machen Sie sich nicht verrückt, Kindchen!“, brummt der leider ausgestorbene Onkel Doktor in seinen Bart. Vielleicht bin ich ja eine Hypochonderin?, hofft die lebenslängliche Todeskandidatin. Aber auch Hypochonder sterben, belehrt sie sich selber. Es scheint aussichtslos zu sein, ihr wird mulmig.

Mulmig, mal guggeln.

Vielleicht kommt irgendwann eine Diktatur, die eine sofortige Hypochondersperre an Computern veranlässt. Wenn sie schon nicht das Sterben verbietet.

Michèle Thoma
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