Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Sonntagnachmittag

d'Lëtzebuerger Land du 17.03.2023

47 Prozent aller Staatsausgaben sind Sozialausgaben (De Budget 2023. Finances publiques). Denn der Sozialstaat legitimiert die staatliche Herrschaft. Soziale Fragen entscheiden oft über Wahlen: Index, Renten. Sind die Kammerwahlen vom 8. Oktober schon entschieden? Fanden sie am 3. März in der Tripartite statt?

Früher dauerten Tripartite-Runden wochen- oder monatelang. Nicht immer ließen die Gewerkschaften sich zu Indexmanipulationen überreden. Dann wurde die Tripartite totgesagt. Premierminister Xavier Bettel sträubte sich lange gegen die Tripartite.

Die Tripartite vor 14 Tagen war Speeddating. Es gab keine Index-Tranchen zu streichen, sondern Zuschüsse zu verteilen. Regierung, Gewerkschaften und Unternehmer waren sich rasch einig. Sie trafen ein Abkommen über eine weitere „limitation de la hausse des prix de gaz“, „stabilisation du prix de l’électricité“, „subvention du prix du gasoil utilisé comme combustible“. Bis Ende nächsten Jahres, bis lange nach den Wahlen. Damit die Haushalte ihre Energierechnungen zahlen können. Damit die „marches blanches“ der Impfgegner nicht im Wahlkampf als „gilets jaunes“ wiederauferstehen.

Bei der Finanzierung der Zuschüsse wurde ein Staatsgeheimnis verraten: Dass die Staatsschuld unerheblich ist. Dass ihr Realzins negativ ist. Dass die DP noch eine halbe Milliarde für Steuergeschenke drauflegen kann.

Gewerkschaften, LSAP und CSV wollten die Einkommensstufen der Steuertabelle an die Inflation anpassen. Premier Xavier Bettel entschied: Sollen sie haben! Er überging seine Finanzministerin und die Grünen. So entwand er LSAP, CSV und Gewerkschaften ein vielversprechendes Wahlkampfthema.

Die Tripartite schwört aufs Gesetz: „Toute future tranche indiciaire sera appliquée comme définie à l’article 3 de la loi modifiée du 25 mars 2015.“ Das erspart der Regierung einen Indexwahlkampf. Dafür zahlt der Staat bis Ende Januar die von den Unternehmen geschuldeten Nominallohnerhöhungen.

OGBL-Präsidentin Nora Back lobt im Quotidien „un accord ‚largement au-delà de (ses) attentes‘“ (7.3.23). Im Parlament verspricht Gilles Roth (CSV): „Mir droen dësen Accord vu Senning mat.“ Fernand Kartheiser (ADR) erklärt, „dass mer zefridde sinn mat deene Moossnamen, déi elo geholl goufen“ (7.3.23). Handelskammer und Union des entreprises luxembourgeoises halten sich in ihren Wahlkampfforderungen zurück. Selig schwebt der Geist der Sozialpartnerschaft über Mehrheit und Opposition, Gewerkschaften und Unternehmern.

Die Tripartite hat den Wahlkampf von Kontroversen geläutert. Nun liegt er in der Hand der Werbeagenturen. Der Staat bezahlt sie mit Parteienfinanzierung und Wahlkampfkostenerstattung. Die Parteien können noch ein Prozent mehr Kindergeld oder ein Prozent weniger Hundesteuer versprechen. Wahlen sollen nicht über politische Optionen entscheiden. Sie sollen die Hegemonie der besitzenden Klassen bekräftigen.

2013 ging der CSV-Staat zur Neige. Die schwungvollen jungen Männer wollten die Fenster aufreißen. Sie verbreiteten Aufbruchstimmung. Heute sind die Fenster längst geschlossen. In Zeiten von Krieg, Klimakrise, Inflation und Zinserhöhungen ist Rückzugstimmung gefragt: Ordnung (DP), Sicherheit (CSV), Harmonie (LSAP), Sauberkeit (Grüne).

Bei Wahlen sind die Mittelschichten numerisch ausschlaggebend. Sie sind strukturell langweilig. Sie verfolgen Berufsziele wie Steuerberater oder Buchhalterin. Äußere Reize streamen sie bei Netflix. In unruhigen Zeiten sehnen sie sich nach Langeweile. Nichts ist langweiliger als ein Sonntagnachmittag. Die Wahlen gewinnt, wer Sonntagnachmittag für alle, für immer verspricht.

Die Spitzenkandidaten sind gerüstet: Der jugendliche DP-Premier ist inzwischen fünfzig. Die LSAP schickt eine graue Beamtin. Die CSV grub Yesterday’s Man aus. Vielleicht sind die Wahlen nicht gelaufen. Auf jeden Fall hat die Tripartite sie bis Ende 2024 aufgeschoben.

Romain Hilgert
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