Europa

Solidarität und Hilfe?

d'Lëtzebuerger Land du 18.09.2020

„Wenn ich es richtig sehe, hat Griechenland bisher nicht darum gebeten, Flüchtlinge aus Lesbos in der Europäischen Union aufzunehmen und auf einzelne Länder zu verteilen“, sagt Friedrich Merz, Kandidat für den CDU-Vorsitz und sich selbst ins Spiel bringender Kanzlerkandidat der CDU für die kommende Bundestagswahl – irgendwann im Herbst nächsten Jahres. „Außer Luxemburg und Deutschland ist dazu ohnehin zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein anderes Mitgliedsland der EU bereit.“ Es mache daher keinen Sinn, so Merz, weiter nach einer „europäischen Lösung“ zur Verteilung zu suchen, noch in Deutschland in einen Überbietungswettbewerb der Länder und Kommunen einzutreten, „wie viele Migranten wir denn aufnehmen sollen“. Noch seien die Bilder aus 2015 in Erinnerung und damit auch der Satz, „dass sich diese Lage nicht wiederholen darf“. Damals kamen rund eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Nun möchte Berlin 1 500 Migranten aus griechischen Aufnahmelagern nach Deutschland holen.

Das ist Friedrich Merz zu viel. Sein Vorschlag: „Wir helfen den Griechen erstens mit allen Mitteln, die wir haben, die Flüchtlinge dort menschenwürdig unterzubringen.“ Dazu habe Deutschland mit dem Roten Kreuz und dem Technischen Hilfswerk (THW) bestens ausgebildete und ausgerüstete Hilfsorganisationen. Zudem sollen man Athen „der bereits im Europäischen Parlament diskutierten Option nähertreten, stillgelegte Kreuzfahrtschiffe für die zeitweise Unterbringung an den Außengrenzen der EU zu nutzen.“ Auf diesen Schiffen könnte dann auch das Asylverfahren durchgeführt werden.

Damit positioniert sich Merz erstmals zum Thema Migration und das in einer Zeit, in der selbst die beiden Abgeordnete der AfD im Kreistag von Erlangen-Höchstadt einem Hilfsappell der Grünen zustimmten. Bezugnehmend auf die Lage der Flüchtlinge auf Lesbos heißt es darin: „Die Situation der dort obdachlos gewordenen Menschen stellt eine humanitäre Katastrophe dar. Wir pflichten den Ausführungen des Entwicklungshilfeministers Gerd Müller (CSU) bei. Hilfe kann nicht warten, bis in Europa Einstimmigkeit hergestellt ist.“ Müller hatte, zunächst gegen die Linie seiner eigenen Partei, die Aufnahme von 2 000 Flüchtlingen aus Lesbos in Deutschland gefordert. Inzwischen erklärte sich die große Koalition in Berlin bereit, 1 650 Migranten von griechischen Inseln nach Deutschland zu bringen. Dies auch gegen den anfänglichen Widerstand von Bundesinnenminister Horst Seehofer, ebenfalls CSU.

Den Christdemokraten wie Christsozialen hat immer eine europäische Lösung vorgeschwebt. Es müsse zu einem Gleichschritt kommen, bei dem möglichst viele EU-Staaten vorangehen, forderte etwa der CDU-Innenpolitiker Mathias Middelberg. „So kann man es machen, aber Deutschland darf es nicht alleine machen.“ Es gelte nun eine „nach besten Kräften eine Koalition der Willigen zu schmieden“. Das habe auch schon bei der Seenotrettung geklappt. „Wir warten nicht auf Viktor Orbán, aber wir müssen schon sehen, dass wir einige mit ins Boot holen, die auch wirklich mitmachen wollen.“ Stets und ständig schielen die Konservativen nach Europa, gerade dieser Tage, da Deutschland den Ratsvorsitz in der EU innehat. Dabei machen sich es CDU und CSU bequem: „Wenn wir als Deutsche den Alleingang machen, dann setzen wir wirklich in jeder Hinsicht das falsche Signal“, so Middelberg im ARD-Morgenmagazin. Es sei das falsche Signal in Richtung der Flüchtlinge, da dann möglicherweise mehr nachkämen. Auch sei es das falsche Signal nach Europa, „weil dann werden sich die anderen Europäer eher zurücklehnen.“ Allen in der Union gehe es darum, zu helfen, erklärt Middelberg. Dazu seien schon Hilfsgüter nach Griechenland gebracht worden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht Europa eher in der gestaltenden Rolle. Sie regte an, ein neues Aufnahmezentrum auf der Insel Lesbos zu errichten, das unter griechischer und europäischer Verwaltung steht. So lägen die Hoheitsrechte erst einmal bei Griechenland. Es müsse dazu einen Vertrag geben, dass dort auch europäische gehandelt werden könne. „Ich hielte das für einen wirklich wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer stärkeren Europäisierung der Migrationspolitik“, sagte Merkel.

Kaum ein Politikfeld ist so umstritten wie die Migration. Und immer wieder wird in der deutschen, wie in der europäischen Diskussion auf die jüngsten Erfahrungen verwiesen: 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Dabei wird die damalige Migration immer wieder mit den Begriffen „Kontrollverlust“ oder „Staatsversagen“ assoziiert. Ein Erfolg der Rechten, die diese Interpretation durchgesetzt haben und zu einem Instrument für all diejenigen machten, die Migration ohnehin schon immer verhindern wollten. Mit dem Mantra, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, haben Regierungen in Europa Repressionen durchgesetzt, die lange Zeit im Sinne des europäischen Geistes tabu waren: Italien schloss seine Häfen für Seenotretter. Ungarn baute einen Zaun. In Libyen bezahlt Europäer Milizen, die gegen Migranten vorgehen. Das eigentliche Drama des Jahres 2015 ist, dass sich Europäer entschieden, Flüchtlingen offen zu begegnen, nur um den Kontinent danach umso härter abzuschotten. In diesem Geiste entstand das Lager Moria auf der Insel Lesbos.

Und Moria wird zu einem Symbol. Dafür, dass Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen europäischen Staaten ihre Regierungen auffordern, Flüchtlinge aus Lesbos aufzunehmen. Die Regierungen jedoch weiter auf Abschreckung und Abschottung setzen. Die EU setzt alles daran, Moria schnellstmöglich wiederaufzubauen, um den Status ante alsbald wiederherstellen zu können. In Ländern wie Griechenland, Österreich oder Ungarn ist man nach Jahren des Rechtsrucks längst an eine migrationsfeindliche Politik gewohnt. Deutschland möchte sich aus der Verantwortung stehlen, indem es darauf verweist, dass sich der Alleingang des Jahres 2015 als Irrweg herausgestellt habe. Was es brauche, heißt es allenthalben, sei eine europäische Lösung. Doch wer auf eine solche pocht, will keine Lösung, denn es ist längst augenscheinlich, dass sich die 27 EU-Staaten nie und nimmer auf eine gemeinsame Migrationspolitik einigen werden – können. Wenn eine Mehrheit der EU-Mitglieder einfach hinnimmt, dass ein Staat Flüchtlingen jedweden Schutz verwehrt – so wie das 2015 in Ungarn der Fall war und heute in Griechenland der Fall ist – dann ist ein nationaler Alleingang kein Irrweg, sondern eine Notwendigkeit. Die wichtigste Lehre aus 2015, die kaum gesehen wird, ist, dass es nicht nur auf die absoluten Zahlen an Geflüchteten ankommt, sondern auch darauf, wie der Zuzug organisiert wird.

Unverdrossen sucht Berlin dennoch nach der europäischen Solidarität. Aus Wien kommt dazu ein eindeutiges: Nein. Besonders vehement vorgetragen von der konservativen ÖVP um Bundeskanzler Sebastian Kurz, der im Bündnis mit den Grünen regiert. Das „Geschrei nach Verteilung“ sei kein Lösungsansatz, so der ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg. „Gewalt sein kein Mittel für den Eintritt in Europa“, meint Innenminister Karl Nehammer, ebenfalls von der ÖVP. Mehrere Anträge der Opposition im Wiener Nationalrat scheiterten – sowohl jene der Sozialdemokraten und Liberalen, die sich für die Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge aus Moria einsetzten, als auch die gegenteilige Forderung der stramm rechten FPÖ. Die Grünen erklärten vorab, dass sie zwar für die Aufnahme von Geflüchteten seien, aber trotzdem nicht mit der Opposition stimmen würden, da dies Koalitionsbruch sei, und die ÖVP „unmissverständliche Signale“ gesendet habe, dann mit der FPÖ zu stimmen. Österreich will stattdessen 400 Hilfsunterkünfte, einen Arzt und zehn Sanitäter des Bundesheeres nach Lesbos schicken.

In den Niederlanden lehnt die rechtsliberale Partei von Premier Mark Rutte die Aufnahme von Migranten aus Griechenland strikt ab. Erst auf Druck der drei Regierungspartner in der Mitte-Rechts-Koalition zeigte man sich bereit, 100 Flüchtlinge – darunter 50 Kinder – aus Moria aufzunehmen. Als „Gegenleistung“ sollen dafür allerdings aus dem Migrationsprogramm des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR nur 400 Migranten pro Jahr in die Niederlande kommen dürfen, statt der vereinbarten 500. Die Oppositionsparteien werteten dies als „zynischen Kuhhandel“.

Dänemark hat ohnehin mit die strengste Asyl- und Migrationspolitik in Europa, so dass die derzeitige Diskussion um Moria kaum Raum einnimmt. Kopenhagen setzt auf Hilfe vor Ort. Auf diese Wese könne man mehr Migrantenkindern helfen als in Dänemark, so der sozialdemokratische Entwicklungsminister Rasmus Prehn. Drei Millionen Euro will Kopenhagen an Athen überweisen, um den „Tausenden unbegleiteten Flüchtlings- und Migrantenkindern“ zu helfen, ein Dach über dem Kopf und einen Schlafplatz zu bekommen. „Wir glauben, dass Flüchtlinge und Migranten vor Ort geholfen werden sollte. Wir bedauern es, wenn wir sie in Europa zwischen uns aufteilen müssen“, so Prehn weiter. Die rechtspopulistische Dänische Volkspartei fordert, einen vier Meter hohen Grenzzaun zu Deutschland zu errichten, sollten die Migration wieder zunehmen.

Schweden zieht sich auf eine rechtliche Betrachtung der Lage zurück. „Was eine mögliche Überstellung von Asylbewerbern aus Griechenland betrifft, trifft die schwedische Migrationsbehörde die Entscheidung und nicht die Regierung“, sagt Morgan Johansson, sozialdemokratischer Minister für Justiz und Migration. Und weiter: „Die Regierung kann der schwedischen Migrationsbehörde nicht die Aufgabe übertragen, Menschen aus anderen Ländern nach Hause zu holen, dann verstößt die Regierung gegen die Verfassung.“ Eine Aufnahme sei erst möglich, wenn die EU-Kommission eine Verteilung beschließe. Dieser Rechtsauffassung widersprechen führende Juristen des Landes: „Es ist nicht wahr, dass Schweden in irgendeiner Weise warten muss, um die Genehmigung der Europäischen Kommission zu erhalten. Schweden kann in ernsten Situationen handeln, wie es andere Länder derzeit auch tun“, so Anna Lundberg von der Universität Linköping. Die Migrationsbehörde möchte Entscheidungen nur im sogenannten Dublin-Verfahren treffen – und dies setze Grenzen. Wenn die Asylsuchenden keine Familie oder kein laufendes Verfahren in Schweden hätten, werde es schwierig, so eine Sprecherin der Behörde. Stockholm will derzeit Zelte, Decken, Schlafsäcke und Campingküchen nach Lesbos schicken.

Finnland möchte „elf unbegleitete minderjährige Asylbewerber“ aus Moria holen. Bereits im Frühjahr hat Helsinki angekündigt, 175 besonders gefährdete Migranten aus dem Mittelmeerraum aufzunehmen. Die Aufnahme der Elf sei ein Teil der Umsetzung dieser Entscheidung.

Spanien ist der Auffassung, dass der Druck durch Migranten auf das Land schon sehr groß sei und fordert Solidarität von den EU-Partnern. Derzeit gebe es keine Pläne, Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen. Wie Italien und Griechenland pocht Madrid schon länger auf eine ausgewogenere Verteilung der Flüchtlinge in der EU. Spanien hat im vergangenen Jahr rund 118 000 Flüchtlinge aufgenommen, so eine Auswertung der UNHCR.

Griechenland hat offiziell bislang nicht um die Aufnahme der nun obdachlosen Migranten in anderen EU-Staaten nachgesucht. Athen befürchtet, dass Migranten auf anderen Inseln Lager anzünden, um so zu erzwingen, evakuiert zu werden. Giorgios Koumoutsakos, stellvertretender Migrationsminister in Athen, dazu: „Wer denkt, er könne zum Festland und dann nach Deutschland reisen, der soll es vergessen.“ „Mach’ es wie in Moria“ dürfe nicht zum Slogan werden. Griechenland wäre mit der Abnahme mehrerer tausend Migranten auch deshalb nicht geholfen, weil dies das eigentliche Problem nicht nachhaltig lösen würde. Athen pocht deshalb auf eine EU-Lösung mit Quote, nach der andere EU-Staaten Asylberechtigte aufnehmen. Darüber hinaus ist das Land an den Flüchtlingspakt der Europäischen Union mit der Türkei gebunden, demnach Migranten auf den Inseln verbleiben müssen, bis über ihr Asylgesuch entschieden ist. Erst bei positivem Entscheid dürfen sie aufs Festland.

Frankreich zeigt sich über die „schwache Reaktion“ anderer EU-Staaten auf den Brand von Moria verärgert. Nur sechs Länder seien bereit, überhaupt etwas zu tun. Paris erklärte sich bereit, „Hunderte Flüchtlinge“ aufzunehmen, wie Europa-Staatssekretär Clément Beaune sagte. In Frankreich wird derweil vor allem über die Zusammenarbeit zwischen Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Emmanuel Macron diskutiert, weniger über die Aufnahme von Flüchtlingen an sich.

Martin Theobald
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