Als Ilres-Meinungsforscher hatte Tommy Klein den Piraten in Umfragen Fraktionsstärke versprochen. Nun will er für sie ins Parlament einziehen

Unterhalb der Mitte

d'Lëtzebuerger Land vom 17.03.2023

Gold Mit seinem weißen Hemd, dem dunkelblauen Sakko, den blauen Jeans und braunen Lederschuhen passt Tommy Klein stilistisch schon mal ganz gut zu den Piraten. Am Freitag stellte Parteikoordinator Marc Goergen ihn in den Räumen der Piratenabgeordneten als neuen politischen Berater, Ko-Koordinator und Kandidat für die Nationalwahlen im Zentrum vor. Dort wird er gemeinsam mit dem „natierleche Spëtzekandidat“ Sven Clement antreten. Vielleicht wird er auch in seiner Wohngemeinde Strassen bei den Kommunalwahlen kandidieren, wenn die Piraten dort noch eine Liste zusammenbekommen.

Bevor er im Januar als Managing Director für den Bereich Public beim Meinungsforschungsinstitut Ilres kündigte, um eine politische Laufbahn einzuschlagen, hatte Tommy Klein den 2009 gegründeten Piraten eine goldene Zukunft vorausgesagt. Bei der „Sonndesfro“ von Wort und RTL war die Partei 2020 noch auf einen Sitz abgerutscht, während der Corona-Pandemie hat sich ihr Resultat jedoch schlagartig verbessert: Im Juni 2021 kam sie auf vier, fünf Monate später sogar auf sieben Sitze, 2022 hat sie sich bei sechs Mandaten stabilisiert. Ihr Angeordneter Sven Clement ist im Juni 2021 erstmals in die Top Ten und im November 2021 unter die besten Fünf der beliebtesten Politiker/innen vorgerückt – im Oktober 2019 hatte er noch Platz 29 belegt. Sein Abgeordnetenkollege Marc Goergen, den RTL, Wort und Ilres erst vergangenes Jahr in das Ranking aufgenommen haben, schaffte es bislang nicht in die Top 30 – und das obwohl die Piraten 2018 im Südbezirk mit Goergen besser abschnitten als im Zentrum mit Clement.

Die guten Umfragewerte haben bei den Piraten Zuversicht geweckt. Im Zentrum würden sie bei den Nationalwahlen auf jeden Fall zwei Sitze holen, rechnet Marc Goergen vor. Im Süden, wo er selber kandidiert, zwei bis drei. Die designierten Spitzenkandidaten im Osten und Norden – der Remicher Gemeinderat Daniel Frères und Raymond Remakel, Gemeinderat in Redingen/Attert, – würden in ihren jeweiligen Bezirken auch ein Mandat erlangen. Bislang fehlten den Piraten aber vor allem in den beiden großen Bezirken Kandidat/innen, „déi fënnef Joer an der Chamber duerhalen“, meint Goergen. Mit Tommy Klein haben sie nun einen quasi „fertigen“ Kandidaten gefunden, der öffentlichkeitserprobt und auch rhetorisch auf der Höhe ist.

Aufstieg Der 38-jährige Statistiker hat einen ähnlichen sozialen Background wie Sven Clement (d’Land, 06.08.2021). Seine Familie entstammt der unteren Mittelschicht, seine Mutter war Bankangestellte, sein Vater arbeitete bei Technofibres in Wasserbillig und später als Busfahrer bei den Autobus de la Ville de Luxembourg, wo er bis zum Eintritt in die Rente vor fünf Jahren Präsident der LCGB-Sektion war. Aufgewachsen ist Tommy Klein eigenen Aussagen zufolge in einem „wohlbehüteten Umfeld“ im Osten, nach der Scheidung seiner Eltern zog er mit seiner Mutter ins Zentrum, lebte in Hesperingen, Dommeldingen und Howald. Nach dem Abitur im Lycée de Garçons de Luxembourg hat er Philosophie und Soziologie in Aachen studiert. Mit dem Master in der Tasche kam er zu Ilres, wo er 2013 als Research Executive begann. Als sein Vorgänger Charles Margue Ilres 2018 verließ, um für die Grünen ins Parlament zu ziehen, wurde Klein Client Service Director, im September 2021 avancierte er zum Managing Director. Auch im gesellschaftlichen Leben hat Tommy Klein den sozialen Aufstieg geschafft: Im Mai 2022 wurde er zusammen mit dem Escher député-maire Georges Mischo (CSV) in den Rotary-Club aufgenommen, im Juni wurde er Vorstandsmitglied der Vereinigung Lëtzpact, in der vornehmlich Lobbyist/innen aus der Pharma- und Tabakindustrie sich für mehr Transparenz in den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat einsetzen (vor zwei Monaten legte er sein Mandat nieder).

Bei Ilres führte Tommy Klein in den vergangenen Jahren auch Umfragen für die Regierung durch. Noch Ende September stellte er mit Landwirtschaftsminister Claude Haagen (LSAP) die Resultate einer Studie zur Lebensmittelverschwendung vor, im November fand er im Auftrag von Mittelstandsminister Lex Delles (DP) heraus, dass der Einzelhandel sich an die digitale Entwicklung anpassen müsse, vor fünf Wochen präsentierte er mit Landesplanungsminister Claude Turmes (Grüne) die Ergebnisse einer Umfrage zu Wachstum und Lebensqualität. Einen seiner größten Aufträge erhielt er von Premierminister Xavier Bettel (DP): Er durfte den partzipativ ausgerichteten Klimabiergerrot zusammenstellen und den Lösungsfindungsprozess begleiten. Mit den politischen Parteien führte Klein Befragungen durch, die ihnen bei der Ausarbeitung ihrer Wahlstrategien und der Auswahl ihrer Spitzenkandidat/innen helfen sollen, wie er Ende Dezember im Radio 100,7 erzählte. Damals wusste er bereits, dass er zu den Piraten wechseln würde. Deontologische Bedenken über seinen Wechsel in die Politik haben weder Klein, noch sein früherer Arbeitgeber. Darüber hinaus sei es arbeitsrechtlich nicht möglich, jemandem zu verbieten, sich politisch zu engagieren, erklärt Thomas Crepon, Managing Director der Bereiche Private und International bei Ilres.

Er stelle sich in den Dienst der Piraten, weil sie Werte wie Transparenz, Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Bürgerbeteiligung am authentischsten verkörperten, sagt Tommy Klein im Gespräch mit dem Land. Ihr bürgernaher Ansatz und ihre Art und Weise, Politik zu betreiben, hätten ihn beeindruckt. Über konkrete politische Inhalte spricht er nicht. Dafür aber immer wieder über Bürgerbeteiligung, die er noch weiter ausbauen wolle. Im Gegenzug haben Marc Goergen und Sven Clement ihm ein attraktives Angebot gemacht. Mindestens bis Oktober wird er als Berater von der Partei bezahlt, danach soll er Abgeordneter werden.

Regierung Wegen seiner öffentlichen Auftritte bei RTL und mit Regierungsmitgliedern auf Pressekonferenzen hat Tommy Klein in den vergangenen Jahren Bekanntheit erlangt. Dass er als unabhängiger Meinungsforscher auf Twitter die politische Aktualität kommentierte, stieß nicht nur auf Zustimmung, erweiterte aber seinen Bekanntheitsgrad. Seine Chancen, im Oktober direkt gewählt zu werden, stehen demnach gut. Bei den etablierten Partei wären die Konkurrenz größer und die Strukturen schwerfälliger gewesen als bei den Piraten, die am Freitag zwar noch weitere „Überraschungen“ angekündigt haben, insgesamt jedoch personell längst nicht so breit aufgestellt sind wie die vier großen Parteien.

Erklärtes Wahlziel der Piraten sei es, in die Regierung zu kommen, sagt Marc Goergen dem Land. Unrealistisch sei das nicht, umso mehr es wohl darauf hinauslaufen werde, dass es mindestens drei Partner brauche, um eine Mehrheit zu bilden. Koalitionen seien für die Piraten mit allen großen Parteien denkbar, unterstreicht Goergen. Andererseits stellt sich die Frage, ob CSV, DP, LSAP und Grüne tatsächlich bereit wären, mit den Piraten in eine Koalition zu gehen. Denn selbst wenn sie noch weitere personelle Überraschungen in Petto hätten, ist unklar, wie berechenbar die Piraten wirklich sind und wer die Fraktion auf Kurs halten soll. Auch die Frage nach der Größe der Parteibasis ist bislang nicht geklärt. Goergen erzählte zwar am Freitag, dass die Piraten seit 2021 rund 330 neue Mitglieder hinzugewonnen hätten und nun insgesamt 680 zählten, zum letzten Landeskongress im Juni waren jedoch nur 60 oder 70 gekommen.

Auf Gemeindeebene hatten die Piraten schon in den vergangenen Wochen kleinere „Überraschungen“ präsentiert: Marcel Laschette (69), Verwaltungsratsmitglied des Konsumenteschutz ULC, und Jean Heuschling (61) vom Collectif monoparental, das sich für die Abschaffung der Steuerklasse 1a einsetzt, werden mit Sven Clements Vater Pascal (62) bei den Gemeindewahlen in der Hauptstadt kandidieren. In sieben Proporzgemeinden seien ihre Listen schon komplett, in vier weiteren seien sie noch im Aufbau, sagt Goergen. Bislang ist die Piratenpartei nur in Petingen (mit zwei Räten) und Remich sowie in den Majorzgemeinden Colmar-Berg, Leudelingen, Redingen/Attert und Vichten vertreten. Charly Muller, der 2017 in Park Hosingen gewählt wurde, hat sich vor einigen Wochen aus der Politik zurückgezogen.

Indexklau 2017 waren die Piraten in weniger als einem halben Dutzend Proporzgemeinden angetreten. Sven Clement hatte in der Hauptstadt – anders als Goergen in Petingen – den Einzug in den Gemeinderat verpasst. Das ist insofern überraschend, als der pragmatische, „bürgernahe“ und populistische Politikstil, den die Piraten national praktizieren, eigentlich eher dem entspricht, den andere Parteien auf kommunaler Ebene pflegen. Eine klare inhaltliche Linie ist bei den Piraten selten zu erkennen. In ihrem Wahlprogramm von 2018 sprachen sie sich für einen gedeckelten Index und eine schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich aus. Bei den Debatten in den vergangenen Monaten klang das jedoch anders. Auf dem Landeskongress im Juni wollte Clement mit KPL-Rhetotrik den „Indexklau“ um jeden Preis verhindern und bei der von der LSAP lancierten Debatte über Arbeitszeitverkürzung im Parlament verzichteten die Piraten auf klare Bekenntnisse. In den Bereichen Bildung und Umwelt machten sie 2018 kaum eigene Vorschläge, und auch in der Kultur und beim Wohnungsbau blieben sie sehr zurückhaltend. Das Anti-Establishment-Image, das die Piraten pflegen, passt eigentlich nicht zu ihren Inhalten – die meisten ihrer Vorschläge finden sich auch in den Programmen der anderen Parteien wieder. Selbst in den Bereichen Chancengleichheit und Tierschutz, die sie quasi exklusiv für sich beanspruchen, verlangen sie nichts, was LSAP, DP oder Grünen nicht auch einfällt. Die wohl „innovativste“ Maßnahme in ihrem Programm ist (neben dem Bau von futuristischen Solar Roadways) die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das sie zum letzten Mal 2020 offensiv gefordert haben. Inhaltlich konnten sie in den letzten fünf Jahren vor allem mit ihrer Kernforderung nach mehr Transparenz punkten. Durchsetzen konnten sie aber weder ein ordentliches Lobbyregister für Abgeordnete, noch ein modernes Transparenzgesetz.

Allerdings beschert insbesondere Sven Clement die ständige Forderung nach Transparenz in jeglichen Bereichen ein Höchstmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit. Erst kürzlich hat er das Gesundheitsministerium beim Verwaltungsgericht verklagt, um die Herausgabe von vermeintlichen Dkumenten über Corona-Impfbestellungen zu erzwingen. Vor zwei Jahren hatte er mit einer ähnlichen Aktion schon einmal Erfolg, als der Verwaltungsgerichtshof nach seinem Einspruch urteilte, jeder Abgeordnete habe das Recht auf Einblick in den Konzessionsvertrag, den der Staat mit RTL abgeschlossen hat. Solche Aktionen haben etwas Enthüllendes, Investigatives. Und sie lassen vermuten, das „politische Establishment“ habe etwas zu verbergen, was ohne die Piraten nie ans Tageslicht käme. Viel schlauer waren die Abgeordneten nach Einsicht des RTL-Konzessionsvertrags aber offenbar nicht. Clement fragte sich danach, ob alles konform sei. War diese Fragestellung nicht der Grund, weshalb er den Vertrag überhaupt einsehen wollte? Indem er auch nach Einsicht noch Zweifel an der Konformität äußerte, ohne es aber beweisen zu können, ließ er die Öffentlichkeit erneut mit dem Gefühl zurück, „Gambia“ wolle etwas unter den Teppich kehren.

Auch Marc Goergen spielt geschickt die Transparenzkarte. Mit seinen parlamentarischen Anfragen bringt er vor allem die grünen Minister/innen immer wieder in Bedrängnis, etwa wenn er von Joëlle Welfring und Claude Turmes wissen will, wieso noch keine Anträge für Fördermittel zur Installation von Fotovoltaik-Anlagen bearbeitet wurden, und von François Bausch die genaue Anzahl der verspäteten Züge oder Details zur Fahrzeugflotte der Regierung haben möchte. Geschmacklos war die Kampagne, die er 2020 zusammen mit Daniel Frères gegen die frühere Umweltministerin Carole Dieschbourg in den sozialen Netzwerken führte, weil sie die staatliche Jagd auf Mufflons genehmigt hatte.

Strategie Es ist vor allem diese Strategie, gepaart mit kalkulierten verbalen Entgleisungen (Clements „Nondidjö“ beim état de la nation) und theatralischer Empörung in öffentlichen Kammersitzungen, die den Erfolg der Piraten ausmacht. Ihr Populismus unterscheidet sich grundlegend von dem der ADR, weil er nur in den seltensten Fällen rassistisch, sexistisch oder homophob motiviert ist. Trotzdem scheinen sie ähnliche Wählerschichten anzusprechen. Allerdings gibt es beim Elektorat auch Unterschiede: Eine Studie der Chaire de recherche en études parlementaires um den Politologen Philippe Poirier hat gezeigt, dass die Wähler/innen der Piraten (die damals noch gemeinsam mit der PID antraten) 2018 überdurchschnittlich jung (68% waren zwischen 18 und 34 Jahre alt), Angestellte (75%) und im Privatsektor tätig (63%) waren. 42 Prozent gehörten der unteren Mittelschicht an, rund ein Drittel verdiente weniger als 3 000 Euro. Nur 58 Prozent der Piraten-Wähler/innen gaben an, mit dem Zustand der Demokratie in Luxemburg zufrieden zu sein (unter den ADR-Wähler/innen waren es 59%, der Durchschnitt lag bei 84%), 40 Prozent waren unglücklich wegen ihrer wirtschaftlichen Situation. Gleichzeitig interessierte sich nur ein Drittel der Piraten-Wähler/innen für Politik (bei der ADR waren es zwei Drittel, bei allen anderen über 70%). Diese Menschen als Protest- oder Frustwähler zu bezeichnen, greift vielleicht zu kurz. Es mag aber stimmen, dass sie LSAP und Linken entglitten sind. Und auch die CSV sie nicht mehr erreicht.

Tommy Klein hat im Auftrag der Abgeordnetenkammer bei Ilres die Daten für die Studie von Poirier erhoben. Damit die Menschen wieder Vertrauen in die Demokratie bekommen, möchte der neue Pirat sie stärker in den politischen Entscheidungsprozess einbinden. Ob es damit reicht, ist allerdings fraglich. Die Unzufriedenheit und der Vertrauensverlust hängen eher mit den steigenden sozialen Ungleichheiten zusammen. Für dieses strukturelle Problem haben die Piraten bislang kaum „pragmatische“ Lösungsansätze geliefert. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn die jungen, schlecht bezahlten und politikverdrossenen Wähler/innen Vorschläge auf einer Internetseite einreichen können. Tatsächlich dürften die Piraten an der Lösung der sozialen Frage kaum Interesse haben. Schließlich würden sie sich ansonsten selbst ihrer Wählerschaft berauben. Eher wird ihnen daran gelegen sein, sie mit vermeintlichen „Enthüllungen“ und gezielten Provokationen weiter bei der Stange zu halten..

Luc Laboulle
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