Mit The Conjuring: Last Rites läuft derzeit der vierte und als Abschluss angekündigte Teil einer der bekanntesten Horror-Reihen der Gegenwart. Das „Conjuring-Universum“, entstanden aus den Erzählungen der Dämonologen Ed und Lorraine Warren, hat sich über mehr als ein Jahrzehnt zum Inbegriff des modernen okkulten Horrors entwickelt. Das Ehepaar tritt in den Filmen nicht als kirchliche Amtsträger auf, sondern als paranormale Ermittler, die immer wieder auf katholische Rituale und die Unterstützung von Priestern zurückgreifen, wenn es darum geht, Besessenheit oder Spukphänomene zu bannen. Spin-offs, Prequels und Fortsetzungen erweiterten den Zyklus, dessen erzählerisches Zentrum stets katholische Dämonologie, Exorzismusrituale und die Vorstellung vom Sieg des Religiösen über das Böse bilden. Millionen Zuschauer lassen sich von Dämonenbeschwörungen, Exorzismen und Spukhäusern fesseln. Während dieser Mainstream-Horror die Multiplexe dominiert, existiert eine andere, weitaus weniger populäre, aber ebenso faszinierende Spielart des Schreckens – der Folk Horror.
Folk Horror ist ein Subgenre des Horrors, das sich durch seine einzigartige Verbindung von ländlicher Folklore, alten Ritualen und tief verwurzelten Ängsten auszeichnet. Es erzählt von einer Welt, in der die Natur, uralte Traditionen und das Übernatürliche in bedrückender Weise miteinander verwoben sind. Einer der frühesten filmischen Vorläufer des Folk Horrors ist der schwedische Stummfilm Häxan von Benjamin Christensen aus dem Jahr 1922. Er verbindet dokumentarische Elemente mit dramatischen Inszenierungen und thematisiert Hexenverfolgungen im Mittelalter, wobei er die Macht von Aberglauben und gesellschaftlicher Paranoia eindrücklich zeigt. Häxan stellt damit einen wichtigen Ausgangspunkt dar, an dem sich die Kombination von Geschichte, Mythos und Schrecken im ländlichen Kontext abzeichnet. Eine Blütezeit erlebte das Genre in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in Großbritannien. Filme wie Witchfinder General (1968) von Michael Reeves und Blood on Satan’s Claw (1971) von Piers Haggard zeichneten sich durch eine intensive Auseinandersetzung mit Hexerei, Ritualen und der Spannung zwischen moderner Welt und archaischen Traditionen aus. Besonders bedeutend ist The Wicker Man von Robin Hardy (1973), der heute als Ikone des Folk Horrors gilt. Die Bedrohung entsteht nicht durch explizite Gewalt, sondern durch das langsame Entdecken einer fremden, unnachgiebigen Kultur. Die Insel und ihre Natur wirken wie ein lebendiger Organismus, der den Eindringling umgibt und schließlich verschlingt. Dieses Spiel mit Landschaft, Isolation und Ritual prägt bis heute das Genre – und unterscheidet es stark von den klaustrophobischen Innenräumen des okkulten Horrors, der in dieser Hinsicht deutliche Parallelen zum Haunted-House-Film aufweist. Ein zentrales Merkmal des Folk Horrors ist die ländliche Umgebung. Wälder, Moore und abgelegene Dörfer sind nicht nur Kulisse. Sie wirken wie eigenständige Charaktere, die Geheimnisse bergen und eine Atmosphäre der Isolation schaffen. Die Hauptfiguren – oft Außenseiter oder Städter – finden sich in einer fremden Welt wieder, deren Regeln und Glaubenssysteme ihnen unverständlich erscheinen.
Das Grundmotiv des Konflikts zwischen Moderne und archaischer Tradition zieht sich wie ein roter Faden durch das Genre. Die Begegnung von rational denkenden Menschen mit einer Welt, in der Magie, Glaube und Rituale dominieren, führt zu tiefen Spannungen und oft auch zum tragischen Scheitern. Die Übernatürlichkeit bleibt im Folk Horror oft vage und unterschwellig. Die Bedrohung entsteht weniger durch klar sichtbare Monster oder Dämonen, sondern durch das Gefühl des Unbekannten, Unerklärlichen und Beobachteten. Es ist ein Horror, der keine Auflösung im kathartischen Exorzismus verspricht, wie es der okkulte Horror pflegt, sondern eine Verunsicherung, die bleibt. Neuere Filme haben das Genre weiterentwickelt und greifen klassische Themen neu auf. Robert Eggers’ The Witch (2015) erzählt von einer puritanischen Familie in Neuengland im 17. Jahrhundert, die von religiösem Fanatismus, familiärem Zerfall und der Angst vor Hexerei zerrieben wird. Ari Asters Midsommar (2019) rückt den Schrecken in gleißendes Tageslicht und zeigt, wie unter der Oberfläche idyllischer Rituale eine grausame Logik waltet. Beide Werke waren Festival- und Kritikerfavoriten, erreichten aber nie die Zuschauerzahlen eines Blockbuster-Franchises – ein Hinweis darauf, dass Folk Horror im „Art Horror“ und dem Arthouse-Kino verankert bleibt. Auch aktuell entstehen neue Werke. Allein 2024/25 sind mindestens neun neue Filme erschienen, die Teile der Folk-Horror-Tradition fortführen – doch sie bleiben häufig weitgehend unbeachtet, sichtbar eher in Programmkinos, auf Festivals oder in Nischenveröffentlichungen. Der irische Film Fréwaka von Aislinn Clarke aus dem Jahr 2025, Harvest von Athina Rachel Tsangari aus Griechenland und Starve Acre von Daniel Kokotajlo aus Großbritannien, beide 2024 entstanden, kreisen um Rituale, Gemeinschaft und Isolation – Werke, die zwar in Programmkinos und auf Festivals gezeigt werden, aber kaum öffentliche Aufmerksamkeit finden. Sie zeigen, dass das Genre weiterlebt, jedoch im Schatten der Blockbuster-Serien. Bedeutsam für den Folk Horror ist seine Fähigkeit, den tiefen kulturellen und psychologischen Riss zu zeigen, der durch die Konfrontation zwischen dem Fortschritt der Moderne und dem Erbe der Vergangenheit entsteht. Diese Fremdheit erzeugt eine beklemmende Spannung, die sich auf das Publikum überträgt und den Schrecken steigert.
Darin liegt möglicherweise ein wesentlicher Grund für die unterschiedliche Rezeption: Der okkulte Horror verspricht ein gemeinschaftliches Erlebnis mit einem klar lesbaren Spannungsbogen, während Folk Horror Geduld, Offenheit und Reflexion fordert. Das eine erfüllt mehr das Bedürfnis nach unmittelbarem Nervenkitzel, das andere spricht die unterschwelligen Ängste und kulturellen Traumata an, die nicht so leicht zu bannen sind. Die Natur, oft als bedrohliche Kraft inszeniert, ist dabei nicht einfach Feind, sondern ein Symbol für das Unkontrollierbare. Während die moderne Welt auf Vernunft und Kontrolle setzt, zeigt sich, wie sehr Menschen den Kräften ausgeliefert sind, die außerhalb ihres Einflussbereichs liegen. In der heutigen Zeit gewinnt der Folk Horror eine politische und kulturelle Dimension. Er wird zum Ausdruck einer Sehnsucht nach Verwurzelung und Identität in einer Welt, die sich schnell verändert. Gleichzeitig warnt er vor dem blinden Festhalten an Vergangenem, vor Kulten und Ideologien, die dunkle Seiten haben können. Sein langsamer, subtiler Aufbau fordert Geduld und Aufmerksamkeit. Statt auf schnelle Effekte zu setzen, wächst der Schrecken in gradueller Steigerung, bis die gesamte Erzählung in einer Atmosphäre des Unausweichlichen mündet.
So eröffnet der Vergleich ein aufschlussreiches Panorama: Der okkulte Horror erzählt vom Bann des Übernatürlichen durch die Kirche; der Folk Horror vom Fortleben archaischer Mythen und Rituale in abgeschiedenen Landschaften. Beide sind Kinder überlieferter Vorstellungen, beide sprechen von der Macht des Volksglaubens – der eine meist durch den Dämon, der andere überwiegend durch das Opferfest. Und beide erinnern daran, dass unsere tiefsten Ängste weniger in Splatter und Schock liegen, sondern in Geschichten, die seit Jahrhunderten weitergegeben werden.