Mit dem politischen Kurswechsel der Regierung geht die Zahlenakrobatik um die Staatsfinanzen und damit der Streit über die Umverteilungspolitik in eine neue Runde

Die Scholastik der Staatsfinanzen

d'Lëtzebuerger Land vom 24.06.2016

Pünktlich zur Hälfte der Legislaturperiode hatten DP, LSAP und Grüne mit der Erklärung zur Lage der Nation vor zwei Monaten einen politischen Kurswechsel angekündigt: Nach katastrophalen Ergebnissen bei den Europawahlen, dem Referendum und in den Meinungsumfragen hatte sich die moderne Spar­koalition vorgenommen, mit dem Sparen aufzuhören, um sich bis zu den Gemeindewahlen nächstes Jahr und den Kammerwahlen übernächstes Jahr wieder in die Herzen der Wähler einzukaufen. Liberale Umverteilungspolitik mittels der Staatsfinanzen ist schön und gut, aber wenn die Wählermassen es merken, verliert man die Wahlen. Schluss also mit Steuererhöhungen, Kindergeldkürzungen und Katastrophenstimmung, Platz frei für die Steuerreform, den neuen Elternurlaub und unerschütterlichen Optimismus (d’Land, 29.4.16).

Weil Xavier Bettel und Etienne Schneider keine halben Sachen machen wollten, schreckten sie nicht einmal davor zurück, ihr im Koalitionsabkommen beschlossenes mittelfristiges Haushaltsziel eines strukturellen Überschusses von 0,5 Prozent in ein mittelfristiges Haushaltsdefizit von 0,5 Prozent zu verwandeln. (Wer kommt schon auf die Idee, so etwas in ein Koalitionsabkommen zu ­schreiben?) Dabei hatten die DP-, LSAP- und grünen Abgeordneten erst vier Monate zuvor im Gesetz über die mehrjährige Haushaltsplanung brav einen Überschuss von 0,5 Prozent gestimmt. Auch der Conseil national des finances publiques hebt den sakralen Charakter eines mittelfristigen Haushaltsziels in seinem diese Woche veröffentlichten Gutachten hervor, indem er es gleich vier Mal „la pierre angulaire de la gouvernance budgétaire“ nennt.

Folglich bedauerte der Conseil national des finances publiques in seinem Gutachten umso mehr, dass die Regierung ihr mittelfristiges Haushaltsziel von +0,5 Prozent auf -0,5 Prozent gesenkt hat. Denn dieses Ziel solle auch die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen gewährleisten. Die Senkung werde vor allem möglich, weil der Ageing Working Group der Europäischen Kommission seine demographischen Vorhersagen drastisch geändert habe: Im Jahr 2060 sollen demnach keine 700 000, sondern 1,1 Millionen Leute in Luxemburg leben, so dass der Anteil der Altenversorgung an der Gesamtwirtschaft geringer würde (S. 39, d’Land, 6.11.15)).

Der Präsident des Conseil national des finances publiques, Romain Bausch, betonte am Montag, dass die Kommission nicht selbst auf diese neue Bevölkerungszahlen gekommen sei, sondern sie vom Luxemburger Statec geliefert bekommen habe. So als hege er den Verdacht eines Regierungskomplotts im Interesse einer großzügigeren Haushaltspolitik. Voraussetzung für dieses Bevölkerungswachstum sei aber ein anhaltend hohes Wirtschaftswachstum. Deshalb sei es dringend ratsam, sich auch pessimistischere Hypothesen zurechtzulegen und sich haushaltspolitischen Spielraum für den Fall niedrigeren Wachstums zu schaffen.

Die Erfahrung lehrt, dass noch alle Prognosen des Bevölkerungswachstums gründlich falsch waren. Trotzdem nannte Romain Bausch 1,1 Millionen Einwohner im Jahr 2060 eine „aggressive Hypothese“ und schürte Angst, dass „Luxemburg in 40 bis 50 Jahren wie Singapur aussehen“ werde. In Wirklichkeit hat Singapur eine Bevölkerungsdichte von 7 697 Einwohnern pro Quadratkilometer. Bei 1,1 Millionen Einwohnern enstpräche Luxemburgs Bevölkerungsdichte mit 425 Menschen pro Quadratkilometer derjenigen der Niederlande von heute.

Für den Conseil national des finances publiques braucht es aber noch eine zweite Voraussetzung, um den Haushaltsüberschuss guten Gewissens in ein Defizit verwandeln zu dürfen: Er verdächtigt die Regierung, die Staatsschuld auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen zu wollen, obwohl eine Obergrenze von 30 Prozent im Koalitionsabkommen beschlossen worden war. Denn die Europäische Kommission berechne für das minimale mittelfristige Haushaltsziel stets den von den Maastrichter Kriterien erlaubten Höchstsatz von 60 Prozent, und es sehe so aus, als ob die Regierung stillschweigend dieses Schuldenvolumen ausschöpfen wolle (S. 40).

Der Conseil national des finances publiques hat errechnet, dass bei den im Koalitionsabkommen festgehaltenen 30 Prozent Schulden gar kein Defizit von 0,5 Prozent möglich, sondern ein Überschuss von 0,25 Prozent nötig wäre. Darauf angesprochen, wollte sich Generalsekretär Nima Ahmadzadeh am Montag nicht auf einen Zeitrahmen festlegen, die 60 Prozent würden schon „bis zum Jahr 2060“ erreicht würden. So als machten Prognosen der Staatsschuld über zwei Generationen irgendeinen Sinn.

Der Conseil national des finances publiques hat auch die Ursache ausgemacht, weshalb die Koalition sich finanzpolitisch vom Paulus in einen Saulus zurückverwandelt: Die Verschlechterung des nominalen Saldos im Vergleich zu den Vorjahren und bei unveränderter Politik entstehe durch die Erleichterungen im Rahmen der für nächstes Jahr angekündigten Steuerreform, die keineswegs kostenneutral ausfalle, wie zuvor immer versichert (S. 56). In anderen Worten: Die Europäische Kommission ließ sich eine neue Schätzung des Bevölkerungswachstums unterjubeln, um ein Haushaltsdefizit zu erlauben, mit dem Steuersenkungen finanziert werden.

Allerdings will der Conseil national des finances publiques auch nicht so weit gehen, von der Steuerreform abzuraten. Er will vielmehr an der Kostenneutralität festhalten und schlägt vor, zur Gegenfinanzierung staatliche Ausgaben zu kürzen oder verschiedene Steuervergünstigungen abzuschaffen. Denn richtigen Widerstand gegen diese Politik gab es bisher nicht: Zwar wollten Sprecher der Unternehmerverbände an einem mittelfristigen Haushaltsüberschuss festhalten, aber mehr noch beanstandeten sie, dass die Steuersenkungen für die Unternehmen nicht weit genug und für die Haushalte zu weit gingen. Mangels einer liberalen Opposition im Parlament beschränkten CSV und ADR sich darauf, die DP an ihre widersprüchlichen Aussagen zur Sparpolitik und die Grünen an ihre Angst vor dem 700 000-Einwohnerstaat zu erinnern, sie hüteten sich aber vor der wenig populären Forderung, auf die Steuerreform zu verzichten.

Der Conseil national des finances publiques war vor zwei Jahren geschaffen worden, als das Parlament, wie all die anderen Parlamente in der Euro-Zone, ein Gesetz verabschieden, um die Austeritätspolitik in der Europäischen Union möglichst unabhängig von politischen Mehrheiten und wirtschaftlichen Konjunkturen zu institutionalisieren, indem es dem Stabilitätspakt, dem Six-Pack, dem Two-Pack und der goldenen Defizitbremse Gesetzeskraft verleihen musste. Aufgabe des achtköpfigen Rats ist es, den nationalen Wachhund der europäischen Haushaltspolitik zu spielen.

Gleich mit seinem ersten Gutachten hatte der Conseil national des finances publiques auf sich aufmerksam gemacht, als er den strukturelle Saldo der Staatsfinanzen nach seiner eigenen Methode berechnete und Alarm schlug, dass der Staatshaushalt schon dieses Jahr eine „signifikante Abweichung“ aufzuweisen drohe, was ein Sanktionsverfahren auslösen könnte. Doch die Europäische Kommission sah das nicht so eng, ebenso die Zentralbank, der Rechnungshof, die Berufskammern, die parlamentarische Opposition und selbstverständlich die Regierung. Denn aufgrund einer eher politisch als ökonomisch nachvollziehbaren Entscheidung wird der tatsächliche Haushaltssaldo mit ziemlich willkürlich festgelegten Faktoren multipliziert, einem Produktionslücke genannten hypothetischen Bruttoinlandsprodukt bei vollständiger Auslastung des Produktionsapparats und einem von der OECD für Luxemburg festgelegten Satz von 0,44. Wobei das Bruttoinlandsprodukt in einer Volkswirtschaft, wo fast die Hälfte der Beschäftigten außerhalb des Landes wohnen, kaum aussagekräftig ist. Das Ergebnis soll jedenfalls der strukturelle, konjunkturbereinigte Saldo sein.

Nun ruft der Conseil national des finances publiques mehrere Zeugen an, um seine Vorbehalte gegenüber der Berechnungsmethode der Produktionslücke zu bekräftigen: Das Statec habe schon vor zwei Jahren darauf hingewiesen, dass die Methode der Euro­päischen Kommission problematisch sei. Auch der Finanzminister hielt sie in einem Schreiben an den Conseil national des finances publiques im Oktober vergangenen Jahres für wenig geeignet in einer kleinen, offenen Volkswirtschaft. Schließlich habe das Statec in seiner ersten Konjunkturnote für dieses Jahr geraten, seine eigene unter Modux simulierte Formel zu übernehmen, während der Conseil national des finances publiques die Datenserien recht ähnlich nach Hodrick-Prescott glättet (S. 33). Die Unterschiede zwischen den Ergebnissen der verschiedenen Methoden machen mehr als einen halben Prozentpunkt aus, so dass die Frage, ob die Staatsfinanzen einen strukturellen Überschuss oder ein Defizit aufweisen, von der Wahl der Rechenmethode abhängt, also politisch ist. Für die Haushalte von 2015 und 2016 wählte Finanzminister Pierre Gramegna (DP) bald die Methode des Statec, bald diejenige der Kommission.

Ähnlich verhält es sich mit den Antworten auf die politisch nicht unerhebliche Frage nach den Auswirkungen des Zukunftpak auf die Staatsfinanzen im laufenden Jahr. Laut mehrjähriger Finanzplanung 2014 bis 2018 bringt das Sparpaket 796 Millionen Euro ein, laut Stabilitätsprogramm 2015 bis 2019 sind es 765 Millionen Euro und laut mehrjähriger Finanzplanung 2015 bis 2019 sind es 584 Millionen Euro. Für 2018 reichen die Schätzungen sogar von 695 bis 1 008 Millionen Euro, da die mehrjährige Finanzplanung nicht die Abschaffung der gesetzlich befristeten Haushaltsausgleichssteuer berücksichtigt.

Zwar werden immer mehr Experten mobilisiert, um der ökonomischen Disziplinierung mittels der Finanzpolitik einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen, doch sie erreichen zunehmend das Gegenteil: Mit ihrem Methodenstreit nähren sie selbst bei gutgläubigen Laien den Verdacht, dass andächtig verehrte Formeln wie der strukturelle Saldo nur ein Kapitel Scholastik sind, zu der schon Erasmus alles gesagt hat. Unter dem Strich ist der Conseil national des finances publiques dann doch noch einer Meinung mit dem sehr anpassungsfähigen Finanzminister, wenn er feststellt, dass das Risiko, dass die Luxemburger Staatsfinanzen die Maastrichter Kriterien verfehlten, gesunken sei, weil Uneinigkeit über die Rechenmethode herrsche und das mittelfristige Haushaltsziel von +0,5 Prozent auf -0,5 Prozent gesenkt worden sei (S. 67).

Romain Hilgert
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