Flüchtlinge und Europa

Wie buchstabiert man Solidarität?

d'Lëtzebuerger Land vom 03.03.2011

Im Teletext eines deutschen Fernsehsenders konnte man einige Tage nach dem Beginn des Aufstands der Libyer gegen ihre Knechtschaft lesen, dass Experten der Auffassung seien, dass in Libyen 50 000 bis 1,5 Millionen Flüchtlinge auf die Einreise nach Europa warten würden. An solchen Zahlen kann man vor allem erkennen, dass alle Vorhersagen, ob und in welchem Umfang es im Zuge der revolutionären Umwälzungen in Nordafrika zu einer Flüchtlingswelle in die EU kommen könnte, zuallererst tiefsitzende europäische Ängste widerspiegeln von mittellosen Habenichtsen überrollt zu werden, die nicht anderes wollen, als den Europäern ihren Wohlstand wegzunehmen.

Real sind bisher Flüchtlingsströme aus Libyen von Tunesiern und Ägyptern in ihre jeweiligen Länder sowie die von Gastarbeitern zahlloser anderer Staaten, die nichts anderes wollen, als in ihre Heimat zurückzukehren. Aus dem revolutionären Tunesien sind mehr als 6 000 Menschen ins italienische Lampedusa geflüchtet. Italien ist damit noch nicht überfordert, das zumindest ist die Meinung des deutschen und schwedischen Innenministers und sicher auch die weiterer Kollegen. Sollte allerdings Malta einen ähnlichen Ansturm verkraften müssen, sähe die Situation schon anders aus.

Italien hatte selbst dann noch Angst vor einem Zusammenbruch des Terrorregimes von Gaddafi, als schon von 2 000 Toten die Rede war und Gaddafi seinem ganzen Volk mit dem Tod drohte, sollte es sich weiter gegen ihn stellen. Italiens Energieabhängigkeit von Libyen und die finanzielle Verflochtenheit seiner Wirtschaft mit libyschem Kapital sind ja auch außergewöhnlich hoch. Der italienische Innenminister. Mitglied der Lega Nord, schloss 2008 ein Rücknahmeabkommen für illegale Migranten mit Gaddafi und glaubte so das Migrationsproblem dauerhaft gelöst zu haben. Den Straftatbestand der illegalen Einwanderung musste der Minister dafür übrigens erstmals in das italienische Recht einführen. Die Gewinne aus dem Handel mit Libyen hat Italien – wie die meisten anderen europäischen Länder auch – gerne eingesteckt, die zu erwartenden Verluste möchte es nun ebenso gerne sozialisieren.

Nach Angaben von Le Monde steht Italien mit diesem Ansinnen nicht alleine da. Es soll vor dem Ratstreffen der europäischen Innenminister vom 24. und 25. Februar in Rom eine Besprechung zwischen Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Zypern und Malta gegeben haben mit dem Ziel, die anderen Mitgliedstaaten der EU zu überzeugen, im Falle eines massiven Flüchtlingsstromes Kosten und Menschen solidarisch aufzuteilen. Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es eine Solidaritätsklausel, die die EU-Staaten dazu verpflichtet, im Falle von terroristischen Angriffen und Naturkatastrophen einander solidarisch beizustehen. Mit etwas gutem Willen könnte man eine massive Flüchtlingswelle auch als Naturkatastrophe einstufen. Schließlich können Politiker bei Definitionen mitunter äußerst flexibel sein. Tun sie es nicht, gilt weiterhin, dass Flüchtlinge von dem Land zu versorgen sind, dessen Boden sie zuerst betreten haben. Eine gemeinsame EU-Asyl- und Migrationspolitik wird zwar diskutiert, ist aber immer noch nicht verwirklicht, da die meisten Länder die Hoheit über ihre Einwanderung behalten wollen.

Die Europäische Union hätte allerdings größte operationelle Schwierigkeiten, mit einer massiven Flüchtlingswelle überhaupt logistisch fertig zu werden, da sie die dafür notwendigen Instrumente noch gar nicht entwickelt hat. Sie müsste sich in einem solchen Falle mit der entsprechen schwerfälligeren Koordination nationaler Maßnahmen begnügen. Eigene Möglichkeiten stehen ihr noch nicht zur Verfügung. Der Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung des Europäischen Parlaments diskutiert zurzeit eine Resolution, die darauf abzielt den Mitgliedstaaten Beine zu machen, damit diese endlich gemeinsame operationelle Zentren und Einheiten aufbauen, um im Katastrophenfall auch eigenständig als EU handlungsfähig zu sein.

Die Kommission versucht ebenfalls Druck zu machen und will die aktuelle Situation in Nordafrika dazu nutzen, die Mitgliedstaaten von einer stärker integrierten Politik zu überzeugen. Diese sind, was Solidarität durch stärkere Integration betrifft, äußerst zurückhaltend, werden aber im 21. Jahrhundert immer wieder von der Tatsache überrascht, dass sich ihre geliebte intergouvernementale Methode, bei der sie das letzte Wort behalten können, als völlig unangemessen für die Lösung aktueller Probleme entlarvt. Die größte Hypothek europäischer Politik und ihrer Eliten aber bleibt es, dass die Mitgliedstaaten ihre Bürger in keinster Weise darauf vorbereitet haben, dass Europa nur in stärkerer Integration und Solidarität eine Chance hat, sein Schicksal eigenständig zu meistern. Das ist der tiefere Grund dafür, dass man in Europa angesichts der revolutionären Umbrüche in Nordafrika zuallererst an die eigene Ölversorgung und ungeliebte Flüchtlinge denkt und nicht daran, wie die größte Wirtschaftsmacht der Welt ihren für ihre Freiheit kämpfenden Nachbarn unter die Arme greifen kann.

Christoph Nick
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