Luxemburg soll mit Hilfe des BND vom US-Geheimdienst ausgespäht worden sein. Nun verlangt die Regierung Antworten aus Berlin. Und im eigenen Land?

Die Schuld der Anderen

d'Lëtzebuerger Land du 22.05.2015

Es sei nur „die Spitze des Eisbergs“, da ist sich Christian Kmiotek sicher. Am Dienstag war der Parteipräsident von Déi Gréng nach Berlin gereist, um auf einer gemeinsam mit Kollegen aus Österreich und Deutschland veranstalteten Pressekonferenz Journalisten über jüngste Entwicklungen in der Spionageaffäre BND zu berichten. Es war der Grünen-Nationalratsabgeordnete Peter Pilz aus Wien, der den Stein ins Rollen brachte: Am 15. Mai hatte der Österreicher ein internes E-Mail zwischen Bundesnachrichtendienst (BND) und der Deutschen Telekom vom 3. Februar 2005 auf Facebook veröffentlicht. Darin schreibt ein Telekom-Mitarbeiter (seit seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss vom Bundestag für Insider kein Unbekannter mehr) dem BND, nach der „großen Umschaltaktion“ könnten die Strecke Luxemburg-Wien, Luxemburg-Moskau, Luxemburg-Ankara und Luxemburg-Prag wieder abgeschöpft werden.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht über die Netzwerke, die Lëtzebuerger Piratepartei und dann die Medien griffen die Geschichte auf. Die BND-NSA-Affäre schien endgültig in den Nachbarstaaten angekommen zu sein. Am Dienstag wurde Pilz präziser: Nicht vier, sondern elf der Daten-Knotenpunkte betreffen Luxemburg, darunter Telekomleitungen nach Wien über den Carrier: Poste, aber auch nach Amsterdam, Ankara, Frankfurt, Helsinki, Kopenhagen, Mailand, Prag, Rom, Stockholm und Zürich. Damit liege das Großherzog auf einer Wunsch-Prioritätenliste der NSA im Mittelfeld, so Pilz. An deren Spitze stehen ihm zufolge Frankreich und die Niederlande. Seit 2004 organisierte die Telekom für 6 500 Euro den Datentransfer für den BND, so steht es in einem „Geschäftsbesorgungsvertrag“, den eine österreichische Zeitung am Dienstag veröffentlichte. Mit dem E-Mail, der Liste und dem Vertrag der Telekom ist für die Grünen die Sache klar: Der BND hilft über seinen Sitz in Bad Aibling den amerikanischen Geheimdiensten dabei, Verbindungen im Ausland durch das Anzapfen ausländischer Datenleitungen auszuspionieren. „Es handelt sich nicht mehr nur um Terror-Abwehr. Alles spricht dafür, dass es auch um Wirtschafts- und politische Spionage geht“, so Kmiotek von Déi Gréng.

Die Regierung, die über keine eigenen Informationen verfügt, sondern von den Vorwürfen aus den Nachrichten erfahren haben will, hat bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Unbekannt wegen einer möglichen Verletzung des Fernmeldegeheimnisses und des Datenschutzgesetzes erstattet. Österreich tat dies bereits am 5. Mai. Der Luxemburger Botschafter Jean-Louis Wolzfeld in Washington wurde angewiesen, Informationen beim State Department einzuholen, wovon man sich nicht zu viel versprechen darf: Bisher haben sich die US-Behörden gegenüber derlei Anfragen stets zugeknöpft gezeigt. Außenminister Jean Asselborn (LSAP) hatte seinen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier am Sonntag angerufen und um „Aufklärung“ und „umfassende Transparenz“ gebeten. Am Montag bei einem Treffen in Brüssel erfolgte Steinmeiers offizielle Antwort: Man sei bereit, alles dafür zu tun, heißt es in Asselborns Antwort auf eine Dringlichkeitsanfrage des LSAP-Abgeordneten Marc Angel.

Für viele Beobachter dürfte das allerdings wie ein schlechter Witz klingen. Seitdem mit den Enthüllungen des Ex-NSA-Agenten Edward Snowden die Spähaffäre ihren Gang nahm, lässt sich vieles über die Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und deutschen Geheimdiensten sagen, nur nicht, dass Berlin sich sonderliche Mühe bei der Aufklärung geben würde. Es gibt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der seit März 2014 damit beauftragt ist, Licht ins Dunkel der Geheimdienstzusammenarbeit zu bringen. Doch deren Mitglieder erfahren wesentliche Entwicklungen selbst oft erst aus den Medien. Wenn sie dann Nachforschungen anstellen wollen, heißt es von Seiten der Regierung häufig, sie müsse zunächst grünes Licht von den Amerikanern bekommen. So warten die Ausschussmitglieder noch immer auf die Liste der Selektoren, das sind Suchbegriffe wie IP-Adressen, Email-Adressen, URLs, Geokoordinaten, Telefonnummern und mehr, mit denen die NSA deutsche Datenleitungen mit Hilfe des BND durchforstet haben soll. Zwischen acht und neun Millionen Selektoren sollten es im Jahr 2013 gewesen sein, darunter angeblich mehrere tausend, die gegen das Grundgesetz verstießen. Laut Süddeutscher Zeitung sollen sich allein im März 2015 in den BND-Computern 4,6 Millionen aktive Suchbegriffe befunden haben, die sich auf 1,267 Millionen Personen und Unternehmen bezogen hätten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CSU) besteht trotz des dringenden Verdachts, der von ihr kontrollierte BND könnte somit gegen Grundrechte verstoßen haben, weiterhin darauf, zuvor die Erlaubnis aus Washington einzuholen, bevor sie die brisante Liste herausgeben will. Es sieht ganz so aus, als werde die nicht kommen. Mittlerweile hat sich die Krise zu einer regelrechten Vertrauenskrise zwischen der Regierungskoalition von SPD und CDU/CSU ausgewachsen, als Kompromiss ist nun ein Sonderermittler im Gespräch, der die Liste quasi stellvertretend einsehen soll. Die Opposition von Linken und Grünen beharrt jedoch darauf, die Liste selbst einzusehen und will zur Not sogar vors Verfassungsgericht ziehen.

Die Luxemburger sind in diesem Fall passive Beobachter – und es spricht nicht sehr viel dafür, dass sich das ändern wird. Das E-Mail von Pilz stammt von 2005. Laut internen Sitzungsberichten aus dem Untersuchungsausschuss soll die Operation „Eikonal“ des BND, um die es zu gehen scheint, im Jahr 2008 abgeschaltet worden sein. Aber sogar wenn das nicht stimmt und Leitungen weiter angezapft wurden und werden, wird es für die Luxemburger Autoritäten schwierig, zweifelsfrei nachzuprüfen, ob, wann und wer massenhaft überwacht worden sein könnte. Die Post teilt mit, sie sei dabei, eine Analyse zu erstellen. Näheres will die Pressebeauftragte nicht sagen, die Kommunikation laufe nun über Staatsministerium, so die bemerkenswert einsilbige Antwort.

Eine solche Analyse könnte IT-Experten zufolge Wochen dauern. Denn wie will die Post Lauschattacken entdecken, die vor fast zehn Jahren stattgefunden haben? Die Transitstrecken werden von Kunden gekauft, oft über Subunternehmer, was eine exakte Bestimmung zusätzlich erschwert. Auch die Klage der Regierung hat wohl eher geringe Erfolgsaussichten. Theoretisch könnte ein Untersuchungsrichter bei der Post Hausdurchsuchungen veranlassen und zum Beispiel prüfen, mit wem sie Nutzungsverträge hatte. Ansonsten kann sie Rechtshilfeersuchen in Deutschland stellen. Angesichts der dort kaum vorwärts kommenden Aufklärung fürchten Insider, die Klage könnte eine „Totgeburt“ sein.

Die Schlüssel zur Aufklärung liegen in den USA und in Deutschland – und da versuchen die Verantwortlichen alles, um bloß nicht Klarheit in die Vorwürfe zu bringen. Für die Bundeskanzlerin zieht die Spähaffäre immer weitere Kreise. Es sind die ausländischen Enthüllungen und die dortigen Ermittlungen, die für Druck sorgen. Frankreich hat, anders als Luxemburg und Österreich, bisher offiziell keine Klage erhoben. Peter Pilz will nächste Woche in die Schweiz und nach Brüssel reisen, um grüne Parteikollegen sowie Mitglieder dortiger Kontrollausschüsse über seinen Fund zu informieren. Er hatte in Berlin eine Liste von Fragen mitgebracht, etwa: welche Selektoren der NSA gegen Österreich zum Einsatz kamen, welche Daten von Personen aus Österreich sich in den abgeleiteten Datensätzen befanden oder ob das Bundeskanzleramt über die Überwachung informiert war. Pilz hat zudem Klage gegen zwei Telekom-Mitarbeiter sowie einen BND-Agent erhoben.

In Luxemburg ist seit dem Bekanntwerden der Vorwürfe geradezu ungewohntes Interesse und hektische Betriebsamkeit in Sachen NSA ausgebrochen. Anders als 2013, als es darum ging, eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Srel und NSA beim Spähprogramm „Prism“ zu prüfen und außer den Linken sich kaum jemand für das Thema interessierte, überschlagen sich Opposition und Mehrheitsparteien dieses Mal mit parlamentarischen Anfragen. Die jüngste stammt vom Grünen Claude Adam und verlangt Aufklärung über ein eventuelles Geheimabkommen zwischen der Satellitenfirma SES und der NSA. Sollten Luxemburger Unternehmen in US-Spionageaktivitäten verwickelt sein? „Konkrete Verdachtsmomente“ gebe es keine, betont der grüne Generalsekretär Dan Michels. Die Frage leite sich aus „bereits bekannten Enthüllungen über die Zusammenarbeit zwischen US-amerikanischen Firmen mit der NSA“ ab. Die SES war 2001 mit dem US-Satellitenbetreiber General Electric Americon fusioniert. Fragen zum Luxemburger Srel stellte Adam nicht. Doch: Wusste der Srel von möglichen Spionageaktivitäten – dann hätte er die Regierung informieren müssen. Oder wusste er nichts davon? Wie ist es dann um die Spionageabwehr bestellt? Laut Regierungssprecher Paul Konsbrück unterhält der Srel „gar keine Beziehungen“ mit der NSA und tauscht auch keine Informationen mit dem US-Geheimdienst aus.

Bisher liegt lediglich Asselborns Antwort auf die Anfrage von Marc Angel vor. Die Frage des Land, ob der Außenminister am Montag seinem deutschen Amtskollegen präzise Fragen gestellt hatte, etwa ob auf der Selektorenliste Ziele in Luxemburg standen, verneinte dieser. Am Donnerstag hieß es dann, die Regierung habe schriftliche Fragen nachgereicht; welche das sind, darüber gab es keine Auskunft. Für Asselborns Freund und Parteikollegen Frank-Walter Steinmeier könnte die Affäre höchst ungemütlich werden: Der Außenminister war von 1999 bis 2005 Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder und als solcher mit der Aufsicht der Geheimdienste beauftragt. Der Abschluss des Memorandum of Agreement vom 28. August 2002, das die Zusammenarbeit zwischen BND und NSA regelt und das die Regierung trotz versprochener Transparenz nicht offenlegen will, fällt in diese Zeit.

Für Déi Gréng kommen die Enthüllungen hingegen sicher nicht ungelegen, lenken sie doch ab von der eigenen politischen Verantwortung für andere Massenüberwachungsmaßnahmen und fragwürdigen Kooperationen, etwa die Vorratsdatenspeicherung oder das geplante Memorandum of Understanding zwischen dem Großherzogtum und den USA in Sachen umfassender Rechtshilfe bei mutmaßlichen terroristischen Straftaten (S. 4). Auch die Zusammenarbeit mit zwischen BND und NSA wurde von der Politik stets mit der Terrorabwehr begründet.

Der BND weist die jüngsten Vorwürfe derweil zurück. Die vom Grünen-Abgeordneten Peter Pilz präsentierten „Beweise” für das Abhören von Zielen in Österreich oder Luxemburg durch den US-Geheimdienst NSA mit Hilfe des BND basierten auf unzulässigen Schlussfolgerungen, hieß es in Berlin. Spionage mit Hilfe des BND und der Telekom gegen diese Staaten lasse sich aus den veröffentlichten Dokumenten nicht ableiten. Ein klares Dementi klingt anders. Wenn es diese Informationen nicht belegen, dann vielleicht andere? Dass die Amerikaner Interesse am Ausspähen europäischer Ziele hatten und haben, ist nicht neu und nicht verwunderlich: Luxemburg hatte 2005 den EU-Ratsvorsitz inne. Die Europäische Investmentbank, die Euratom-Versorgungsagentur, der Europäische Gerichtshof, aber auch Unternehmen wie SES oder Skype haben ihren Sitz in Luxemburg. Gar nicht zu reden von den vielen Banken. In Deutschland reagierte der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) wegen des Verdachts auf Beihilfe durch den BND zur Wirtschaftsspionage der USA äußerst ungehalten: „Verlorenes Vertrauen hat fatale Konsequenzen“, warnte BDI-Präsident Ulrich Grillo. „Niemand darf hier zur politischen Tagesordnung übergehen.“

Ähnlich äußerte sich die UEL. Auf die Frage, ob der jüngste Lausch-Vorwurf Folgen für den IT-Standort Luxemburg mit seinen 18 Datenzentren haben könnte, beschwichtige Premierminister Xavier Bettel (DP) jedoch: „Luxemburg hat als ICT-Standort durch die aktuellen Erkenntnisse eher keinen Schaden genommen. Zum einen sprechen wir über Vorgänge, die über zehn Jahre zurückliegen. Zum anderen definiert sich die Standortfrage immer im Vergleich zu anderen. Ich sehe nicht, inwiefern Luxemburg hier ein Nachteil nachgesagt werden könnte. Im Gegenteil: Wir sind führend, wenn es um Datensicherheit geht. Unsere Datenzentren in Luxemburg gehören zu den sichersten weltweit.“ Nach dem Motto: Weil alle abgelauscht werden, gibt es keinen Anlass zur Sorge?

Ganz unbesorgt scheint die Regierung indes nicht zu sein: Im Wirtschaftsministerium trafen sich am Mittwoch die Generaldirektoren zu einer Sitzung. Auf der Tagesordnung standen auch die jüngsten Spionagevorwürfe. „Wir nehmen Wirtschaftsspionage ernst“, versicherte Staatssekretärin Francine Closener (LSAP) nach dem Treffen, die betonte, Luxemburg sei grundsätzlich in der Cybersecurity „gut aufgestellt“. Man werde „am Ball bleiben“ und die weiteren Entwicklungen „genau prüfen“. Bevor man konkrete Schritte unternehme, wolle man jedoch Antworten aus Berlin abwarten. Genau darauf warten viele. Bislang vergeblich.

Ines Kurschat
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