Unisex-Versicherungsprämien

Im Tode alle gleich

d'Lëtzebuerger Land vom 03.03.2011

Versicherungsgesellschaften dürfen bei der Berechnung der Prämien das Geschlecht nicht als Risikofaktor berücksichtigen, entschied der Europäische Gerichtshof am Dienstag. Die Richter erklärten eine Derogation der Antidiskriminierungsrichtlinie von 2004, die dies erlaubte, für ungültig. Diese Ausnahmeregelung laufe dem Ziel der Richtlinie, also der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, zuwider. „Das ist eine kleine Bombe für uns“, sagt Jean Habay, Direktor von La Luxembourgeoise Vie. Zwar werde sich wegen der Übergangsfrist bis Dezember 2012 nicht sofort etwas ändern. „Doch wenn die Versicherer danach einen Unisex-Tarif anbieten müssen, ohne zu wissen, wie viele Männer und Frauen sie künftig im Portfolio haben, werden sie eine Sicherheitsmarge einbauen und die Tarife vorsichtshalber erhöhen“, so Habay.

Philippe Bonte, Direktor der Lebensversicherungssparte der Foyer Gruppe, gibt eine Größenordnung: „Wer ab einem Alter von 40 Jahren eine Versicherung gegen vorzeitiges Ableben abschließt, muss als Mann damit rechnen, dass die zu zahlenden Prämien 30 Prozent höher sind als die einer Frau.“ Weil Männer eine geringere Lebenserwartung haben als Frauen ist das Risiko, dass sie sterben und der Versicherungsschutz wirksam wird, höher als bei Frauen. Bei Altersvorsorgeprodukten, bei denen ein angespartes Kapital in eine Rente umgewandelt wird, ist der monatliche ausgezahlte Betrag deswegen bei weiblichen Versicherten zehn Prozent geringer als bei Männern. Dabei werden Frauen nicht diskriminiert, findet Habay, weil sie länger leben und im Endeffekt den gleichen Betrag wie die Männer nur über einen längeren Zeitraum erhielten. Weil auch bei Versicherungsverträgen gegen ein vorzeitiges Ableben Männer und Frauen nach „ihrem Risiko bewertet“ und entsprechend Prämien zahlen müssten, liegt auch in dem Fall für ihn keine ungerechtfer-tigte Ungleichbehandlung vor, meint Bonte. „Das hier ist ein poli-tisches Urteil“, sagt er. Der Aktuar bedauert, das Fachliche werde nicht berücksichtigt, denn die geschlechterspezifische Entwicklung der Lebenserwartung werde seit Jahrzehnten beobachtet und sei deswegen einer der wenigen Risikofaktoren, über den weit zurückreichende Datenreihen vorliegen würden.

Die Generalanwältin Juliane Kokott, hatte in ihrem Gutachten zu dem von der belgischen Konsumentenvereinigung Test Achats vorgebrachten Fall zudem argumentiert, neben dem Geschlecht beeinflussten eine ganze Reihe von Faktoren, wie Lebenswandel und -hygiene, Berufstätigkeit und andere die Lebenserwartung (d‘Land, 19.11.2010). Dass dies nicht so aus der Luft gegriffen ist, wie manche Versicherungsgesellschaften glauben machen wollen, zeigen auch die Ergebnisse, die das statistische Amt Statec im März 2010 veröffentlichte. Hatten Frauen in Luxemburg Ende 2009 mit 82,7 Jahren immer noch eine deutlich höhere Lebenserwartung als Männer (77,6), so schließt sich die Schere. Seit 1996 sei die Lebenserwartung von Männern bei der Geburt um 4,1 Jahre gestiegen, die von Frauen um 3,1 Jahre. Innerhalb von 30 Jahren konnten die Männer 10,3 Jahre hinzugewinnen, die Frauen hingegen nur 8,2. Das liege auch daran, so das Statec, dass sich der Lebenswandel von Frauen und Männern immer mehr angleiche. „Es wird lange dauern, bis der Abstand eingeholt ist“, beharrt Bonte. Er unterstreicht, über die Auswirkungen von sich verändernden Lebensweisen, beispielsweise des Konsums von Tabak – mehr Frauen als Männer griffen in den vergangenen Jahren zur Zigarette –, sei sehr viel weniger gewusst als über die geschlechterspezifische Lebenserwartung. Das Datenmaterial sei lückenhaft.

Ob hinter diesen Argumenten der Unwillen oder die Unfähig-keit stecken, eine komplexere, individuelle, kundenspezifische Risikoeinschätzung vorzunehmen oder nicht, sei dahingestellt. Denn, wie Jean Habay sagt, gibt es durchaus andere Kriterien, von denen eindeutig bekannt ist, dass sie die Lebenserwartung beeinflussen. So leben Verheiratete beispielsweise ein bis zwei Jahre länger als Alleinstehende. Der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Lebenserwartung also doch ein statistischer, kein biologischer? Weil Frauen länger leben, nicht weil sie zwei X-Chromosome haben, sondern sich anders verhalten als Männer? Die Meinungen gehen auseinander. Die in der Versicherungsbranche oft zitierte „Klosterstudie“ zeigt, dass die Lebenserwartung von Männern und Frauen im Kloster nahezu identisch ist, weil sie den gleichen Lebenswandel pflegen. Doch um zu belegen, dass die Verhaltensunterschiede letzten Endes doch auf die Biologie zurückzuführen sind, ziehen andere Forscher Parallelen zur Tierwelt. Auch dort zeigt sich, dass weibliche Tiere im Schnitt länger leben als die Männchen.

Durch den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs bleibt den Versicherern nicht viel anderes übrig, als sich künftig stärker mit den Risiken der modernen Lebensweise auseinanderzusetzen, um eine genauere Berechnung der Kundenprämien zu ermöglichen. Doch einstweilen wollen sie die Unisexrate durch einen Mittelwert bestimmen. Wie Bonte erklärt, müssen Frauen damit rechnen, 15 Prozent mehr zahlen zu müssen, um sich gegen ihren vorzeitigen Tod zu versichern, Männer 15 Prozent weniger. Die Renten von Frauen könnten um fünf Prozent steigen, während die der Männer um fünf Prozent gesenkt werden könnten. 

Michèle Sinner
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