„Bio“ als einheitliches Leitbild für unsere Landwirtschaft: Utopie, Chance oder Notwendigkeit?

Luxembourg Goes Organic

d'Lëtzebuerger Land vom 01.07.2016

Die Luxemburger Landwirtschaft steckt in einer Sinnkrise: konventionell-integriert oder biologisch; übergroß oder maßvoll klein; tierisch, vegetarisch oder vegan; mit wieviel Wasser-, Natur-, Umwelt- und Tierschutz; autark, lokal, regional oder marktorientiert; welche Entschädigung für welche Leistung; bezuschusst oder ausschließlich marktgetragen; auf offenen oder gesetzlich festgeschriebenen Flächen?

Luxemburg, als sehr kleines, agrarisch und klimatologisch benachteiligtes Land, kann mit seinen austauschbaren landwirtschaftlichen Produkten niemals am internationalen Markt bestehen, geschweige diesen beeinflussen. Das beste Beispiel hierfür liefert unsere Milch: Achtzig Prozent davon werden ab Hof roh exportiert, ohne jegliche zusätzliche Wertschöpfung zu generieren. Würden unsere Abnehmer ebenfalls auf „lokal“ hergestellte Lebensmittel als Allheilmittel gegen die Agrarkrise pochen, dann wären unsere beiden Haupterzeugnisse, Milch und Rindfleisch, noch schwerer in der Großregion, beziehungsweise auf dem Weltmarkt abzusetzen, als sie das im eigenen Land schon sind.

Die Forderung, unsere öffentlichen Großkantinen müssten vermehrt hierzulande produzierte Lebensmittel verarbeiten, wird an der Gesamtsituation recht wenig ändern. Die geringen Mengen werden keine wesentliche Veränderung im Absatz oder beim Preis auslösen. Öffentliche Ausschreibungen für die Anschaffung von Produkten müssen mit dem EU-Recht kompatibel bleiben. Die Beschränkung auf ausschließlich im eigenen Land erzeugte Nahrungsmittel ist aus Gründen des freien Wettbewerbs verboten. Nur mittels eines fundierten Lastenheftes kann man Produkte gezielt ausloben, sofern die darin gegebenen Bedingungen und Ziele einen neuen, gesetzlich nicht bereits abgedeckten, qualitativen Mehrwert ergeben, und dieser auch extern nachvollzogen und kontrolliert werden kann.

Doch was macht die Luxemburger Landwirtschaft so eigenartig? Sind die daraus gewonnenen Produkte potenziell weniger mit Schadstoffen, Rückständen von Medikamenten und Pestiziden belastet als die aus der Großregion oder darüber hinaus? Sind bei der Gewinnung unserer Nahrungsmittel weniger Böden weggeschwemmt, weniger Pflanzenschutzmittel in die Gewässer eingetragen, weniger Treibhausgase ausgestoßen, weniger fossile Energieträger verbrannt und weniger Sojabohnen aus Südamerika importiert worden als anderswo? Bei der Diskussion um den neuen Aktionsplan zur Reduzierung des Pestizideinsatzes hat der Landwirtschaftsminister zugegeben, dass seine Verwaltungen nicht in der Lage sind, dazu genaue Daten zu erheben. Geschweige sie auszuwerten, darzustellen und zu kontrollieren.

Sind auf Luxemburger Böden erzeugte Nahrungsmittel allein schon deshalb besser – sprich gesünder und umweltverträglicher –, weil sie hic et nunc bei uns, sprich „lokal“ produziert wurden? Mitnichten! Ausschließlich auf Grasflächen erzeugte UHT-Milch aus Neuseeland, die nach Großbritanien exportiert wird, hat im Vergleich zur dortigen, vorrangig aus mit Mais, Getreide und Soja gefütterten Kühen gewonnenen Milch, eine wesentlich bessere Energiebilanz mit weitaus weniger CO2-Ausstoß. Warum? Weil neuseeländische Kühe als echte Wiederkäuer vorrangig mit Gras, das heißt mit wesensgerechterem, biologischem Futter versorgt werden. Die britischen Hochleistungsmilchkühe dagegen werden so wie die unsrigen mindestens zur Hälfte mit Ackerfrüchten auch aus entfernten Regionen und Kontinenten gefüttert und sechs Monate ohne Auslauf im Stall gehalten. Tierwohl und Energiebilanz leiden gleichermaßen. Möchten wir, dass in unseren Kantinen derart erzeugte Milch und Milchprodukte mit staatlicher Vorschrift verzehrt werden? Gibt es diesbezüglich energetische, biologische, soziale, natur-, umwelt- oder tierschützerische Mehrwerte, die es wirklich wert sind, ihnen zu huldigen?

Luxemburg ist im internationalen Vergleich ein Zwerg. Unser hohes materielles Allgemeinwohl beruht ausschließlich auf wirtschaftlich mehr oder weniger gezielt genutzten Nischen: der Grey-Träger der Stahlindustrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; die Vergabe von Radio- und Fernsehfrequenzen an ausländische Sender in den Sechzigerjahren; die Steuerbegünstigung für Versicherungsgesellschaften und Banken in den Siebzigern und Achtzigern; der Tanktourismus der Neunziger dank niedriger Akzisen auf Sprit, Spirituosen und Tabak, die klammheimlichen Tax rulings, die SES und jetzt die Dritte Industrielle Revolution mittels des sehr stark im Auf- und Ausbau befindlichen ICT-Zweigs sowie das Space mining.

Nur die Landwirtschaft betreibt keine Nischenwirtschaft. Sie kopiert seit Jahren das „Wachsen oder Weichen“ der großen Agrarländer. Sie kompensiert stetig unter europäischer Aufsicht die finanziellen Nachteile, zahlt eine quasi flächendeckende Landschaftspflegeprämie als „grünes“ Alibi obendrauf, und sie behauptet erhobenen Hauptes, ausschließlich Qualitätsprodukte zu produzieren. Und dies in rauen Mengen, jedenfalls mehr als der lokale Markt an Milch und Rindfleisch aufnehmen kann oder will.

Gibt es für die Luxemburger Landwirtschaft keine andere Lösung? Könnte die Landbewirtschaftung hierzulande nicht auch eine eigene Nische gewinnbringend nutzen?

Die einzige natürliche Ressource, die Luxemburg heute zu bieten hat, ist unser Boden, unsere Kulturlandschaft, unser Wasser und unsere Luft. Ein Drittel unseres Landes besteht aus Wald, ein Viertel sind Grünland und ein weiteres Viertel Ackerland. Darauf entfalten sich drei Naturparks, 66 Natura-2000-Gebiete mit diversen Vogel- und Habitatschutz-Richtlinien sowie viele kleinere und größere Wasserschutzgebiete. Doch nur noch zwei Prozent unser Oberflächengewässer sind sauber. Die Treibhausgasbelastung liegt augenblicklich bei astronomischen 21 Tonnen CO2-Äquivalent je Einwohner und Jahr. 15 Prozent davon stammen aus der Landwirtschaft. 130 000 Hektar an landwirtschaftlicher Nutzfläche genügen nicht, um die derzeit 570 000 Einwohner autark zu ernähren. Laut SOS-Faim Luxemburg brauchten wir dazu mindestens 500 000 Hektar (0,9 Hektar je Einwohner), das Vierfache des Verfügbaren.

Sollten wir aus dieser Not nicht eine Tugend machen? Mit lediglich 0,3 Prozent Anteil am BIP und kaum noch zwei Prozent am Arbeitsmarkt kann die Luxemburger Landwirtschaft unser Land weder wirtschaftlich tragen, noch retten. Sie genießt also eine Art Vogelfreiheit bezüglich jeder möglichen Umgestaltung. Einzige Einschränkung könnten und sollten die öffentlichen Gelder sein, die die Landwirte jährlich erhalten und zum Teil verbrennen. Das Netto-Einkommen der Bauern ist seit Jahren niedriger als die gesamten öffentlichen Auszahlungen an Entschädigungen an sie.

Auf nur noch etwa einem Drittel der Agrarfläche kann ohne Einschränkungen geackert und bestellt werden. Wird die Landschaftspflegeprämie beansprucht – sie entfällt immerhin auf 95 Prozent der Gesamtfläche –, wird die Belegungsdichte an Vieh pro Hektar eingeschränkt. Dauergrünland darf in der Regel nicht umgebrochen werden. Kein einziger Landwirt wirtschaftet mehr ohne irgendwelche Einschränkungen. Überall, wo solche bestehen, wird die biologische Landwirtschaft als vorteilhafteste Bewirtschaftungsform für Wasser-, Boden-, Arten-, Biotop- und Klimaschutz hervorgestrichen. Anlässlich der rezenten „Assises agricoles“ vom 21. Juni strich Landwirtschaftsminister Fernand Etgen dies im Namen der Regierung nochmals klar hervor.

Was könnten, beziehungsweise müssten wir tun? Dazu die Arbeitshypothese „Luxembourg Goes Organic“ – ein Nation Branding der besonderen Art.

Nehmen wir an, alle Luxemburger Landwirte wären in naher Zukunft zu echten Bio-Bauern mutiert. Dann blieben von den 100 Millionen Kilo Milch an Mehrproduktion seit dem Quotenwegfall nur noch wenige übrig. Etwa 180 Millionen müssten immer noch unverarbeitet exportiert werden. Doch anstelle der knapp 30 Cent pro Kilogramm Milch erhielte die Branche 50 Cent – ein Plus von 50 Millionen Euro an Netto-Einnahmen für die rund 250 Millionen Kilo Milch an verbleibender Jahresproduktion. Dies wären geschätzte 4 000 Kilo je Hektar Grünland und läge im Rahmen des biologisch Möglichen.

Neben den höheren Einnahmen fielen die Ausgaben für den Import von Düngemitteln, Pflanzenschutzmitteln und Soja gänzlich weg. Mais, Raps und Futtergetreide würden größtenteils durch Kulturen von Gras-Klee-Gemengen sowie durch Futter- und Körnerleguminosen ersetzt beziehungsweise nur noch in Rotation angebaut. Solche Pflanzen binden den frei verfügbaren Stickstoff aus der Luft und hinterlegen ihn im Boden. Mehr Nutzfläche stünde für Feldgemüse und Brotgetreide zur Verfügung. Ganz ohne synthetische Chemiekeulen entstünde eine vielfältigere Blütenpracht für unsere Bienen und unsere Augen. Die daraus gewonnenen Nahrungsmittel wären gänzlich frei von möglichen Rückständen. Champignons und Löwenzahn könnten wieder ohne Bedenken gesammelt beziehunsgweise gestochen und genossen werden. Kinder könnten wieder auf den Feldern und in unseren Bächen spielen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, an Allergieschüben zu erkranken.

Die Tourismusbranche könnte uneingeschränkt mit Slogans wie „Grünes Luxemburg“ werben. Jeder Wein, jedes Brot, jedes Gemüse, jede Frucht, jede Milch, jedes Rinderfilet und jedes Wildbret wären ab Hof, Feld oder Wald „bio“. Unsere Bemühungen zu dem neuen, attraktiveren Luxemburg würden mit der Tram, der anstehenden Dritten Industriellen Revolution, der bald flächendeckenden Abwasseraufbereitung exzellent zum zukünftigen Nation Branding passen. Würden die neuen Ziele aus der aktualisierten Luxres-Studie zu den erneuerbaren Energien mittels besserer Windräder und neuen Fotovoltaikanlagen auf Freilandflächen laut Plan ausgebaut, könnte sich eine verbesserte Treibhausgasbilanz zu den obigen Vorteilen gesellen.

Im Lebensmittelbereich bliebe Luxemburg ein gänzlich offenes Land. Konsumenten, die sich Bio-Produkte nicht leisten können oder wollen, würden stets Lebensmittel aus konventioneller Landwirtschaft in den hiesigen Regalen vorfinden. Wie bisher würde die Mehrzahl dieser Produkte aus dem Ausland importiert. Luxemburg kann weder qualitativ noch quantitativ die breite Palette an notwendigen Nahrungsmitteln erzeugen. Einen Warenaustausch wird es deshalb immer geben. Aber alle aus der Luxemburger Landwirtschaft hervorgehenden Nahrungsmittel würden jetzt „bio“ erzeugt und auch als solche mit deutlich erhöhter Marktleistung abgesetzt – hier bei uns, in den Kantinen und in der Großregion. „Bio“ ist und bleibt Mangelware in Europa. Absatzprobleme wird es dafür keine geben. Unsere Regale blieben überfüllt. Doch Luxemburgs Landwirtschaft würde ab diesem Moment mit integriertem Klima-, Boden-, Wasser-, Tier- und Artenschutz produzieren – flächendeckend. Sie erreichte so einen zusätzliches gewinnbringendes Alleinstehungsmerkmal (englisch: unique selling proposition oder unique selling point, im Fachjargon: USP), weil Querbestäubungen und mögliche Randbeslatungen zwischen konventionell und biologisch beackerten Flächen völlig ausgeschlossen wären.

Im Rahmen der Gespräche zur Dritten Industriellen Revolution befürworteten sowohl Jeremy Rifkin und sein Team als auch die Arbeitsgruppe „Food“ eine flächendeckende Bio-Landwirtschaft für Luxemburg. Lediglich die dort vertretenen, konventionellen Bauern wollten das Wort „bio“ (englisch: organic) nicht niedergeschrieben sehen und schlugen dazu die französische Umschreibung „intensification écologique“ vor. Der Bedeutungsinhalt ist derselbe.

Die Bauern werden das größte Hindernis zur flächendeckenden Umstellung auf „bio“ darstellen. Das ist nachvollziehbar. Sie wurden seit dem Bestehen der europäischen Gemeinsamen Agrar-Politik (GAP) in die Richtung des „Wachsen oder Weichen“ gedrängt: immer mehr und immer billiger. Mit den bekannten externen Hilfsmitteln und den davon ausgehenden Schäden an Mensch und Natur. Die Reparatur dieser Schäden zahlt zurzeit die Allgemeinheit, zusätzlich zu allen anderen Entschädigungen und Unterstützungen. Und zusätzlich zu allen Extensivierungsmaßnahmen entlang der Bäche und Flüsse, auf den Wasserschutz- und Natura-2000-Flächen. Dies führt zu einer Vernichtung öffentlicher Gelder, die in dieser Form keinen Fortbestand haben kann.

Da wir kaum mehr Überflüsse produzieren werden, brauchen wir diese nicht mehr zu Dumpingpreisen in Drittländer zu entsorgen. Folglich ruinieren wir deren Landwirtschaften nicht mehr. Es könnte dies der erste ernsthafte Ansatz der westlichen Agrarpolitik sein, das Zerstören von Leben und Lebensqualität auf allen Ebenen und in allen Teilen der Welt einzustellen.

Es gibt keine Alternative zur flächendeckenden Bio-Landwirtschaft. Die Umstellung wird eine Menschengeneration brauchen. Wir sollten alle miteinander daran arbeiten und versuchen, darüber eine möglichst konstruktive statt einer destruktiven Debatte wie im Fall Brexit zu führen. Alle Bauern und ihre Vertreter sollten tatkräftig mit an dieser Umstellung arbeiten, sonst werden sie vom Zeitgeist überrannt werden.

Die landesweite Umstellung auf „bio“ ist keine Utopie, sondern eine lebensbejahende Notwendigkeit. Sie sollte unbedingt als Chance genutzt werden.

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Jean Stoll
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