Öffentliche Bibliotheken

Ein luxemburgisches Bibliotheksgesetz?

d'Lëtzebuerger Land vom 18.10.2001

Ein Bibliotheksgesetz? In Luxemburg? Warum nicht? Belgien hat eins, Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Irland, Kanada und die USA (in beiden je nach Bundesstaat), Ghana, Nigeria, Sierra Leone, Tansania, Kenia, Botswana, Indien, u.a. Unser Nachbarland Frankreich kann bis heute, trotz der gewaltigen Aufbruchsstimmung und der gewaltigen Zunahme an Fläche, Beständen und Personal von öffentlichen Bibliotheken in den letzten 25 Jahren, noch kein solches Gesetz aufweisen. In Deutschland hängt es vom Bundesland ab; momentan besitzen Baden-Würtemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Bibliotheksgesetze. Nordrhein-Westfalen unterstützt gesetzlich sogar kirchliche Bibliotheken. Die Niederlande hatten ein Gesetz, haben gut davon profitiert und haben es dann jedoch im Zuge der Dezentralisierungspolitik abschaffen müssen. Ein europäisches Bibliotheksgesetz für öffentliche Bibliotheken, das alle Mitgliedsländer zur Einrichtung von kommunalen "europäischen" Bibliotheken verpflichten würde, existiert nicht. Noch nicht. Der Europarat unterstützt derzeit die Bestrebungen, u.a. von der Eblida (European Bureau of Library, Information and Documentation Associations), zur Ausarbeitung eines solchen europäischen Gesetzes. Ein Richtlinienentwurf für Bibliotheken im allgemeinen Sinne ist bereits fertig.

 

Warum ein Gesetz?

 

Ein Bibliotheksgesetz für öffentliche Bibliotheken wird normalerweise notwendig, wenn die freiwillige Initiative auf regionaler oder kommunaler Ebene versagt hat und bei den nationalen Volksvertretern sich die Meinung durchsetzt, dass der Bevölkerung per Gesetz ein Anreiz ("Anreizgesetz") geboten werden muss. Außerdem ist es wichtig, dass, "um die landesweite Koordination und Kooperation der Bibliotheken sicherzustellen, Gesetzgebung und Durchsetzungsstrategien auch einen nationalen Bibliotheksverbund festlegen und durchsetzen müssen, der den akzeptierten Leistungsstandards entspricht." (Unesco-Manifest) Gemeint ist "Einheit" im Bibliothekswesen. Der Nachteil eines solchen Gesetzes für die Bibliotheken zeigt sich darin, dass trotz einer harmonisierten Bibliothekslandschaft die Frage der Höhe der Subventionen sehr selten gesetzlich festgelegt wird. Wenn also in Zeiten der Not und Rezession die Staatskassen leer sind, sind es die der Bibliotheken automatisch auch. Und wie ein solches Gesetz zustande kommt, ist unterschiedlich. Ein Bibliotheksgesetz kann von mehreren Seiten angepackt werden - je nach politischer Großwetterlage. Man kann z.B. entweder von Bibliotheksgründungs- oder Bibliotheksförderungsgesetzen sprechen. Eine Kombination ist möglich. 1972 unterschied Frank M. Gardner in seiner Vergleichsstudie im Auftrage der Unesco noch zwischen zentralistischen und dezentralistischen Bibliotheksgesetzen. Unser kleinstes Nachbarland ist ein interessantes Beispiel für ein zentralistisches Gründungs- und Förderungsgesetz für öffentliche Bibliotheken.

 

Belgien

 

Belgien hat im Gegensatz zu unseren großen Nachbarn seit 1921 (das erste Gesetz hieß "Loi Destrée", nach seinem Initiator Jules Destrée) ein gut funktionierendes Bibliotheksgesetz, das den Kommunen vorschreibt, mindestens eine öffentliche Bibliothek zu besitzen. Diese Bibliothek kann entweder "communale", "adoptée par la commune", oder "libre" sein. Dadurch kann z.B. eine Pfarr- oder Volksbildungsvereinsbibliothek als kommunale Bibliothek gelten. Das belgische Gesetz sieht nämlich eine staatliche Subventionierung durch eine offizielle Anerkennung ("reconnue par l'État") von öffentlichen Bibliotheken unter strengen professionellen Gesichtspunkten vor, die ein hohes Maß an Vereinheitlichung und Effizienz garantieren. Der Nachteil besteht darin, dass bei solch starren Bedingungen für die Erhaltung von staatlichen Zuschüssen ein bestimmter Raum an kommunaler Flexibilität quasi unmöglich ist. Dem Missbrauch in irgendeiner Art einer kommunalen Bibliothek ist ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben, u.a. dadurch, dass die Bibliotheken der staatlichen Inspektion unterworfen sind. Außerdem muss die Bibliothek durch eine fachlich qualifizierte Person geleitet werden. Auf dieses Gesetz vom 17.10.1921 wurde aufgebaut; ein Dekret vom 28.2.1978 und ein Erlass vom 5.8.1995 tragen den aktuellen Gegebenheiten und Entwicklungen (in Wallonien - das Flamenland besitzt seine eigenen aktualisierten Gesetze) Rechnung. Die Kriterien wurden erweitert (z.B. sind die Regalhöhen exakt festgelegt). Es ist mittlerweile ein hochentwickeltes Bibliotheksgesetz, welches die Ziele einer Bibliothek extrem genau festlegt. Dies hat den Vorteil, dass ein einheitliches, gut strukturiertes und leistungsfähiges öffentliches Bibliothekswesen aufgebaut werden kann. Zu einer gesetzlich festgelegten Befreiung jeder Benutzungsgebühr, wie es die Unesco fordert, konnte man sich jedoch nicht durchringen.

 

Deutsche Ländergesetze

 

Deutsche Ländergesetze für öffentliche Bibliotheken wiederum sind anders aufgebaut - hier geht es eher um reine Bibliotheksförderungsgesetze. Ob die Kommune eine öffentliche Bibliothek einrichten, bleibt ihr vorbehalten. Sie kann immerhin in den Genuss von Länderfördermitteln kommen, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllt. Diese sind nicht so stark ausgeprägt wie die belgischen (meist nur Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit anderen bibliothekarischen Institutionen, sowie die Einhaltung von philosophisch-religiöser Neutralität). Also keine reine Verpflichtung zur Gründung von Bibliotheken. Dies lässt den Kommunen viel Spielraum in der Verwaltung ihrer Bibliotheken, aber behindert die Entfaltung des Bibliothekswesens durch kommunale, oft kleinkarierte Eigenbrötelei. Aufeinander abgestimmte bibliothekstechnische Arbeitsvorgänge können dann nicht mehr garantiert werden. Ein Grund, warum der Gesetzgeber gefragt ist. Deutschland besitzt kein Bibliotheksgesetz auf Bundesebene, jedoch im Grundgesetz ein Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit seiner Bürger und die Förderung der Kultur als Staatsaufgabe. Dabei leistet die öffentliche Bibliothek einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung des Grundrechts des Bürgers, "seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten" (Artikel fünf des deutschen Grundgesetzes). Hierbei versteht sich die öffentliche Bibliothek als Dienstleistungsbetrieb, als eine Stätte des Nebeneinanders verschiedener Meinungen und Plattform demokratischer Urteilsbildung. Sie ist kein Agitationsraum, in dem der Bibliothekar oder auch politische Mehrheiten in den Gremien des Rechtträgers ihre Interessen zu verwirklichen trachten.

 

Und Luxemburg?

 

Trotz der eher provinziell anmutenden Situation Luxemburgs können wir wenigstens bibliothekshistorisch von einem derartigen Versuch sprechen. Denn es war im Februar 1928, als der sozialistische Deputierte Jacques Thilmany (1879-1967) den ersten und einzigen Gesetzesvorschlag für öffentliche Bibliotheken in der Geschichte Luxemburgs in der Abgeordnetenkammer vorlegte. Die "Proposition de loi concernant la création de bibliothèques et salles de lecture publiques" (In: Compte rendu des séances de la Chambre des députés, 1927-28, Annexe, S. 357-359) fand allerdings ein unrühmliches Ende - der politische Wille fehlte und die Weltwirtschaftskrise richtete dieses Unternehmen definitiv zugrunde. Was enthielt dieser Gesetzesvorschlag? In die richtige Richtung ging er, indem er staatliche Subventionen forderte und Kriterien betreffend Räumlichkeiten, Öffnungszeiten, Personal, usw. aufstellte. Er zog sogar schon interkommunale Bibliotheken und vor allem - dadurch kann er von bibliothekarischer Seite nur gelobt werden - eine vollständige kostenlose Ausleihe in Betracht. Schließlich ist noch heute der Verwaltungsaufwand für die Erhebung von Benutzungsgebühren rechnerisch teurer als die Einnahmen überhaupt einbringen. Thilmany hat sich auf jeden Fall, wie er in seinem "Exposé des motifs" schreibt, an dem belgischen Modell inspiriert. Bemerkt hat er auch, dass "die kommunale Initiative, mit Ausnahme einiger Industriezentren als Esch a. d. Alzette, Düdelingen usw., fast vollständig versagt hat." Übrigens besitzt unser Land schon ein Bibliotheksgesetz, allerdings für Grundschulbibliotheken (Schulgesetz vom 10.8.1912, Art. 99) und natürlich eine gesetzliche Basis für alle wissenschaftlichen Bibliotheken im Besitz des Staates. Die Unesco sowie die Ifla (International Federation of Library Associations) fordern u.a., dass die Einrichtung öffentlicher Bibliotheken gesetzlich angewiesen werden sollte.

 

Vorschläge

 

Wer muss eine öffentliche Bibliothek besitzen? Diese Frage wird meistens über die Einwohnerzahl angegangen, wodurch hierzulande aber eine gleichmäßige geographische Verteilung nicht zu bewerkstelligen ist. In Frankreich, das zwar kein Bibliotheksgesetz besitzt, spielt die Einwohnerzahl nur eine geringe Rolle. So haben oft Dörfer mit 500 Einwohnern eine eigene kommunale Bibliothek. Wichtiger ist eher die Zusammenarbeit mit der Kommune. Um "bibliotheksfreie" Zonen zu vermeiden, könnte man aus der öffentlichen Bibliothek ein Statussymbol, ein Prestigeobjekt, machen. Momentan besitzen folgende Städte eine "Bibliothèque municipale": Esch/Alzette, Luxemburg, Differdingen, Düdelingen und Grevenmacher. Eschdorf, Ulflingen und Bonneweg dürfen sich nicht dementsprechend bezeichnen. Vorstellbar wäre, alle Kommunen, die laut Gemeindegesetz vom 13.12.1988 voller Würde den Titel "Stadt" tragen, zu verpflichten, eine öffentliche Bibliothek einzurichten und somit ihren jeweiligen Titeln gerecht zu werden. Desweiteren könnte eine solche Vorgehensweise die Möchtegern-Städte dazu ermuntern eine derartige Institution einzurichten, um ihre zukünftigen Ansprüche besser geltend zu machen. Eine "Bibliothèque municipale" - im Gegensatz zu "communale" - müssten demnach noch bekommen: Diekirch (besaß eine von 1952-1997), Echternach, Ettelbrück, Remich, Rümelingen, Vianden und Wiltz. Die Verleihung der Stadtrechte reicht teilweise bis ins Mittelalter zurück und entbehrt meist jeder Logik. Nur der Großherzog kann den Stadttitel verleihen. Auch wäre ein ganzer Landstrich um Redingen/Attert noch immer "bibliotheksfrei". Das gleiche Verfahren könnte man mit den "Kantonalhauptstädten" anstellen. In dem Fall müssten Capellen (Mamer), Clerf, Diekirch, Echternach, Mersch, Redingen, Remich, Vianden und Wiltz jeweils mit einer "Bibliothèque cantonale" nachrüsten. Diese Variante erscheint sinnvoller, kann jedoch niemals ausgeweitet werden, da Kantone nun einmal nicht im Hinblick auf die Größe unseres Landes verändert werden können. Guy Linster hatte in seinem Land-Artikel die "Region" als Möglichkeit angedeutet. Nur welche Verwaltung fühlt sich für eine "Region" verantwortlich? Verbleiben wir dann lieber doch bei fest definierten geographischen Einheiten.

 

Kriterien

 

Welche Zuwendungsvoraussetzungen muss eine Bibliothek erfüllen? Thilmany hatte schon einige erwähnt: funktionsgerechte Unterbringung, ein Minimum an Bestand, allgemeine Zugänglichkeit, kostenlose Ausleihe, ein Mindestmaß an Öffnungszeiten gestaffelt nach Einwohnerzahlen, Kontrolle durch staatliche Inspektion und qualifiziertes Fachpersonal. Fehlen tun u.a. noch: Zusammenarbeit mit anderen bibliothekarischen Einrichtungen und Institutionen des sozialen Bereichs, systematischer Aufbau und ordnungsgemäße Inventarisierung des Bestandes, Anschluss an den regionalen Leihverkehr, fachgerechte Kataloge, lückenlose Ausleihverbuchung, Offenlegen der Ausleihstatistiken und eventuell die Nutzung der fachlichen Unterstützung durch eine staatliche Beratungsstelle für das öffentliche Bibliothekswesen. Diese Beratungsstelle könnte eine dem Kulturministerium unterstehende Art "Staatliche Fachstelle" oder "Bibliothèque départementale de prêt" sein und bräuchte auch eine gesetzliche Basis. Ihre Zuständigkeit würde sich nicht auf wissenschaftliche Bibliotheken erstrecken, könnte sich jedoch auf Schulbibliotheken und andere Sonderformen ausweiten.

 

Nationales Bibliothekszentrum

 

Ein nationales Bibliothekszentrum, oder wie auch immer man diese Beratungsstelle benennen würde, müsste unter anderem folgende Aufgaben erfüllen: 1. Sie liefert die Grundlagen für eine fachlich fundierte Bibliotheksplanung, indem sie örtliche und regionale Bibliothekspläne erarbeitet und gutachterlich Stellung nimmt / 2. Sie hilft Bibliotheksgründungen und Maßnahmen zum Auf- und Ausbau öffentlicher Bibliotheken zu initiieren / 3. Sie berät das Kulturministerium bei der Vergabe von Fördermitteln / 4. Sie initiiert und fördert die Kooperation zwischen Bibliotheken verschiedener Arten und Träger / 5. Sie kooperiert mit allen bibliothekarischen Institutionen und Verbänden, sowie anderen Fachstellen und kulturellen Einrichtungen / 6. Sie berät bei Bibliotheksbau und -einrichtung, indem sie Raumprogramme sowie Funktions- und Einrichtungspläne erarbeitet / 7. Sie hilft bei der Vereinheitlichung und Rationalisierung der Betriebsorganisation öffentlicher Bibliotheken / 8. Sie berät beim Einsatz neuer Medien und Technologien / 9. Sie bietet fachliche Hilfen beim Auf- und Ausbau von Buch- und Medienbeständen und bei ihrer Erschließung und Vermittlung / 10. Sie bietet Arbeitshilfen durch Erstellung und Vermittlung von Empfehlungs- und Auswahllisten von Büchern und Medien / 11. Sie erstellt Berichte zur personellen Ausstattung der Bibliotheken / 12. Sie bietet Fortbildung für bibliothekarisches Fachpersonal und nebenamtlich tätige Bibliotheksleiter sowie deren Mitarbeiter an / 13. Sie leistet zentrale Dienste für öffentliche Bibliotheken bei der Buch- und Medienbearbeitung / 14. Sie gibt Unterstützung bei Öffentlichkeits- und Programmarbeit / 15. Sie erhebt und analysiert für ihren Zuständigkeitsbereich bibliotheksstatistische Daten / 16. Sie hilft beim Auf- und Ausbau des Leihverkehrs zwischen öffentlichen und sonstigen Bibliotheken / 17. Sie sammelt und dokumentiert alle bibliotheksrelevanten Informationen und Materialien aus ihrem und für ihren Zuständigkeitsbereich, bringt sie projektbezogen aufbereitet in spezielle Vorhaben ein, gewinnt daraus die Grundlagen ihrer bibliothekspolitischen Argumentation und stellt sie Interessierten zur Verfügung. So sieht ein Mammutprogramm einer Fachstelle aus. Dabei ist noch nicht einmal die Verwaltung einer Ergänzungsbibliothek für Leihbestände für öffentliche Bibliotheken mitinbegriffen. Eine kürzere Variante wäre für Luxemburg für den ersten Augenblick zufriedenstellend. Eine Bibliothek, und auch eine solche Beratungsstelle, ist schließlich ein wachsender Organismus. Ein späterer Aufbau kann immer noch erfolgen. Aber spätestens, wenn Luxemburg bei 750 000 Einwohnern angelangt ist, wird die heute fehlende nachhaltige Planung bei der Nicht-Existenz eines professionellen Bibliotheksnetzes im Jahre 2050 zukünftige Generationen aufregen.

 

 

Jean-Marie Reding
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