Die kleine Zeitzeugin

Barcelona, Winter 1977

d'Lëtzebuerger Land vom 25.08.2017

Ich bin Pudelsitterin. Ein Topjob, die Herrschaft fliegt in der Welt herum, während ich dem Pudel Mineralwasser serviere und mit ihm über Friedhöfe spaziere, in denen die Toten in weißen Schubladen hoch über dem Meer (f)liegen. Nachmittags, wenn ich aufwache, koche ich meinen Kaffee in einer Kanne, die wie eine Ballerina ausschaut, ich bade in der Sonne auf der Dachterrasse mitten in einem Quartier Popular, in dem ich den Menschen beim Leben zuhöre und zuschaue. Vage, unentschlossene Terrains, zwischen grauen Grasbüscheln und Cola-Flaschen spielende Kinder, an Motorrädern werkelnde Männer, ab und zu ein Eselskarren. Plötzliche rohe Bauten.

Manchmal blättere ich in den Tagebüchern der Frau, die jünger ist als ich und ihrem vierzig Jahre älteren Gatten verfallen ist, eine Liebe, die kaum auszuhalten ist. Wenn die Herrschaft für kurze Zeit kommt, wischt die 23-jährige Chefin mit dem Finger über die banalen Möbel, die ich intensiv mit Gift besprühe, das ist meine zweite Aufgabe. Die Wohnung, in der ich Monate lang alleine mit meinem lockigen Gefährten lebe, muss ich täglich, so der gespenstische Auftrag, mit Gift besprühen. Die Chefin nennt es putzen. Die dritte Aufgabe ist, die Chefin zu unterhalten. Da ich kein spanisch plapperndes Äffchen bin, nicht mal ein Pudel, und die Chefin unter einer schweren, trüben Liebesglocke nistet, ist das die schwerste.

Der Chef ist Diamantendealer. Hin und wieder verkleiden sie mich und führen mich so genannt aus, in die teuersten Restaurants, die ich bewundern muss. Bei einem dieser Abendessen enthüllen sie die vierte Aufgabe: Ich soll mit Diamanten bespickt nach Kolumbien fliegen, in diskretem Abstand zu mir die schmucklose Herrschaft.  

Wenn sie wieder auf Geschäftsreise sind, verabschiede ich mich abends vom Pudel und holpere in dem von ohrenbetäubender Kommunikation vibrierenden Bus ins Zentrum. Die Ramblas vibrieren auch, sie sind voller Blumen und Bücher, Sonnen- und Schattenflecken tanzen. Auf der surrealistischen Placa Reial trinke ich, von alten Männern skeptisch beäugt, Milchkaffee aus hohen Gläsern. Ich wage mich unter die mit klirrender Arroganz gerüstete Kulturbourgeoisie, sie residiert in strenger Architektur mit einem Hauch Wahnsinn. Abseits der Ramblas stoße ich auf Plätze, die auf mich gewartet haben. Die einbeinige Nutte in der Gosse, hat Goya sie in meinen Kopf gepflanzt? Ich trinke Rotwein mit Gespenstern. Sie sprechen eine Indianersprache voller X. Ich flüchte vor einer Zigeunerin, die mich mit ihrem Sohn vermählen will. Feministinnen mit viel Haar und Temperament umarmen einander. Die schönsten Frauen sind Männer. Die Transvestit_innen unten auf den Ramblas grüßen mich freudig, in meinem zerbeulten Männerjackett und mit meinem kecken Damenbart bin ich eine der ihren. Barcelona, zumindest dieser Teil, scheint voller Transvestit_innen. Es gibt Drogen, Freiheit, Franco ist tot, alles lebt. Gieriger, hungriger als in Amsterdam, das schon Verfallserscheinungen zeigt.

Das Meer finde ich nur einmal, nach langer Suche, hinter einem verlassenen Fabrikgelände. Autoreifen wachsen aus dem Sand, Dosen, Ausgebleichtes. Dali ist hier, Pasolini trifft den endgültigen Jüngling. Die seltsame Winterfarblosigkeit des Mittelmeerraums ist vor dem brennenden Himmel- und Meeresblau aufgehoben.

Wenn die Disco schließt, blättere ich mich durch die größte Buchhandlung der Stadt, ernähre mich von immer vertrauter schmeckenden Worthappen. Ich kaufe nur einmal ein Buch, die ins Spanische übersetzte Lyrik von Jim Morrison. Wie sehr Spanisch doch zu dem Dunkel der Verse passt.

Auf den Ramblas geht der Nachtbetrieb einfach in den Morgenbetrieb über. Männer bespritzen meine Füße mit Wasser, die Blumen wachen auf, die Zeitungen winken, es riecht nach Kaffee. Ich bin im Mekka des Nachtmenschen. In meinem Lieblingscafé an der Placa de Catalunya, anonym und beseelt wie ein Bahnhofscafé, genieße ich meinen Morgenkaffee.

Kaum habe ich das Angebot als Diamantenkuli höflich, aber bestimmt abgelehnt, händigt mir der Chef meinen gepackten Rucksack aus. Ein Mann, der sich als Maler vorstellt, spricht mich auf der Placa Reial an. Gegen Kost und Logis sucht er eine Babysitterin. Außerdem eine Gefährtin für seine viel jüngere, etwas schwermütige Frau. Ich ziehe in eine Nische in eine enge, verdunkelte Wohnung, in der Kinder gestapelt sind und eine Frau herumhängt, von anmutiger Schlaffheit wie eine Pflanze, die nie mit Sonne gegossen wird. Abends schleichen die bleiche Frau, die bleichen Kinder und ich durch die Gassen, manchmal stolziert der Maler neben uns. Die Kinder sollen sich selbst unterhalten, findet der Maler. Er will lieber Aktbilder von mir malen, meine Funktionen werden immer weiter ausgeweitet. Zu weit, ich ziehe weiter.

Ich verliere meine Brille. Damit trüben sich die Aussichten auf weitere katalanische Karriereschübe entscheidend.

Ein paar Jahre später beziehe ich ein schmiedeeisernes Bett auf einem Schachbrettmusterfliesenboden in einem Hotel auf der Placa Reial. Eines Abends, mein Begleiter ist mir abhanden gekommen, er wurde auf den Ramblas von drei wundersamen Weibern gekidnappt, plaudere ich mit dem schrumpligen Herrn an der Rezeption. Wieviel Geld ich für meinen Hund wolle, fragt er. Mein Hund, ein Geschöpf Gottes jenseits von Rasse und Klasse. Mein Begleiter taumelt herein, schwer traumatisiert. Die drei Wunderweiber waren Männer!
Während ich versuche, ihn zu stabilisieren, tritt der Rezeptionist an mich heran. Mit Thymian, flüstert er, würde meine Pimpampel vorzüglich schmecken.

Michèle Thoma
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