Vor 120 Jahren verlor der letzte Wolf in Luxemburg das Leben, danach auch den Kopf

Vom Ungeziefer zum Umweltmenetekel

d'Lëtzebuerger Land vom 19.04.2013

Die Rue Général Charles Mangin an dem kleinen Botanischen Garten von Metz ist eine schmucklose Wohnstraße mit einem Schuhgeschäft, einem Perückenladen, einer Druckerei und einem Waschsalon. Ein breites Stahltor, vielleicht der Eingang zu einer ehemaligen Autowerkstatt, trägt heute die Aufschrift „Hôtel des ventes“ und führt zum Auktionssaal der Firma Est Enchères. Sie nennt sich das bedeutendste Auktionshaus im Norden Lothringens.

Zwischen alten Schränken, Gemälden, Elfenbeinschnitzereien, Schmuckvitrinen und Kronleuchtern hängt über der Tür zum Hinterzimmer ein ausgestopfter Wolfskopf mit braunen Glausaugen, halboffenem Maul und langen, weißen Fangzähnen. Das Los Nummer 56 der „Belle vente immobilière“ gehört zu den „Objets d’art et de décoration du XXe siècle (après 1890)“ und wird im Katalog als „Tête de Loup naturalisée“ beschrieben, mit dem Zusatz: „De tradition familiale, il s’agirait du dernier loup chassé au Luxembourg.“ Nach zwei oder drei schriftlichen Geboten und einem routinierten Scherz erteilte der Commis­saire-priseur bei der rezenten Versteigerung einem Bieter im Saal den Zuschlag.

Der letzte Wolf in Luxemburg wurde vor genau 120 Jahren, am 24. April 1893, geschossen. Anderntags hatte das Luxemburger Wort in einer kurzen Notiz geneldet: „Roodt (Syr), 24. April. Vor einiger Zeit berichteten alle Zeitungen, daß in hiesiger Umgegend ein Wolf durch die Wälder streiche. Ueberall gab man an, denselben gesehen zu haben. Zweifel wurden auch dagegen ausgesprochen, ob wirklich ein solches Thier hierlands sei. Doch heute wurde die Wahrheit erwiesen. Die Jagdpächter des ‚Kiém‘, Sektionswald von Olingen, hatten heute eine Treibjagd auf Wildschweine veranstaltet. Schon am Morgen hatten sie das Glück, ein hochträchtiges Mutterschwein durch einen Meisterschuß zu erlegen. Meister Isegrimm, der so lange Zeit dem mörderischen Blei der Nimrode entwischt, wagte sich zu weit heraus und wurde von der Kugel des Herrn Wolff, Richter in Luxemburg ereilt. Die Kugel drang hinter dem rechten Vorderschenkel ein und mußte der Wolf auf der Stelle bleiben. — Ein kräftiges Bravo dem wackren Schützen. Die ganze Gegend ist erleichtert, hat doch das Ungethüm überall Schrecken und Furcht eingejagt. Es ist ein Prachtexemplar, und Furcht und Entsetzen flößt noch im Tode sein scharfes Gebiß ein.“ In der liberalen Luxemburger Zeitung hieß es am selben Tag, dass es sich um „einen männlichen Wolf“ gehandelt habe, „ein Prachtexemplar, wie es seit 25 Jahren nicht mehr im Lande erlegt worden“.

Mit der ersten Frühlingssonne sitzen heute die Angler friedlich an den Fischweihern zwischen Olingen und Rodenburg, ein kleiner Weg führt am Parkplatz vorbei zum Holzhäuschen der Fischer. Auf der anderen Seite der Weiher ragt der spitz auslaufende Waldausgang in die Äcker. Ein Schlagbaum versperrt den Weg in den noch dürren Laubwald. Gleich dahinter soll Edouard Wolff, ein hauptstädtischer Richter aus gutbürgerlichem Haus, den letzten Wolf geschossen haben, der ihm während einer Treibjagd unverhofft vor die Flinte geraten war.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Wölfe hierzulande, wie auch in den meisten anderen Industrieländern ausgerottet. In ihrer Monographie Histoire des loups dans les deux Luxembourg (Rossignol, 2003) beschreibt Marie-Hélène Delguste-Van der Kaa, wie zuerst die Ausweitung der Landwirtschaft den Lebensraum der Wölfe einengte. Die Französische Revolution demokratisierte dann die Jagd, so dass der Wildbestand abnahm und Wölfe zunehmend auch Schafe und Schweine rissen. Entgegen aller Schauermärchen griffen Wölfe nur selten Menschen an, meist waren es tollwütige Tiere oder die Opfer waren unbeaufsichtige Kleindkinder.

Schon im 18. Jahrhundert wurden Prämien für die Erlegung von Wölfen ausgezahlt, die Belohnung wurde von der französischen Verwaltung systematisiert und vom neu geschaffenen Großherzogtum fortgesetzt. Die Prä­mien waren meist gestaffelt, je nachdem, ob sie Welpen, ausgewachsenen Rüden oder trächtigen Wölfinnen galten. Um seinen Anspruch geltend zu machen, musste der Jäger den abgetrennten Wolfskopf vorlegen, dem bei der Auszahlung der Prämie die Ohren abgeschnitten wurden, um Betrugsversuche zu vereiteln. Das Signal zur endgültigen Ausrottung der Wölfe gaben dann Mitte des 19. Jahrhunderts der Beschluss vom 17. Dezember 1849 „relatif aux battues à faire pour la destruction des loups“ und drei Wochen später das Gesetz vom 8. Januar 1850 „accordant des primes pour destruction de loups“.

Bei der Auszahlung der Prämien wurde genau Buch über die erlegten Wölfe geführt. In einem Aufsatz „Der Wolf, seine Lebensweise und frühere Verbreitung im Grossherzogtum“ im Bulletin de la Société des naturalistes hatte Oberförster Ernst Faber 1908 die Liste der 241 seit 1850 erlegten Wölfe veröffentlicht. Über das letzte Exemplar der Liste (mit falscher Datumsangabe) erzählt Faber: „Seit 1883 wo die Herrn Th. de la Fontaine aus Luxemburg und Michel Witry aus Strassen, ersterer eine Wölfin, letzterer einen Wolf erlegten (vergl. Liste), an wurde im Grossherzogtum kein Wolf mehr beobachtet. Umso grösseres Aufsehen erregte es, als Herr Wolff, zur Zeit Obergerichtsrat, 10 Jahre später, nämlich am 24. April 1893, gelegentlich einer mit der Staatsmeute von Stegen im Sektionswalde Olingen, Forstort ‚Kiem‘, abgehaltenen Sauhatze einen starken Wolf zur Strecke brachte. Der ausgestopfte Kopf dieses Wolfes figurierte als ‚le dernier loup tué dans le Grand-Duché de Luxembourg‘, 1906 in der Antwerpener Jagd- und Fischereiausstellung.“

Doch irgendwann verschwand der in Antwerpen ausgestellte Kopf. Der Echternacher Biologielehrer Jos. A. Massard erzählt in einem Beitrag „Wölfe in Luxemburg“ im Lëtzebuerger Almanach '87: „Dieser Kopf soll im Luxemburger Staatsmuseum aufbewahrt worden sein; er scheint aber bei einem der vielen Umzüge der naturwissenschaftlichen Sammlung verschwunden zu sein, im Gegensatz zu dem Stopfpräparat eines ganzen Wolfes, der heute noch mit drohend aufgerissenem Maul in einer Vitrine steht. Seit einigen Jahren wird dieses Tier als ‚letzter Wolf‘ vorgestellt, was offensichtlich falsch ist. Dokumente über die Herkunft dieses Wolfes liegen anscheinend nicht mehr vor; obendrein widersprechen sich die mageren Hinweise, die hier und dort aufzuspüren sind. Für Batty Weber handelt es sich hier um den bei Bartringen in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschlagenen tollwütigen Wolf, der ‚prächtig konserviert einen Glasschrank der naturhistorischen Abteilung ziert’. […] Für Edouard Feitler dagegen, der sich auf Auskünfte von M. Heuertz beruft, haben wir in Gestalt dieses Wolfes jenes Tier vor uns, das 1872 bei Hollenfels abgeschossen worden sei.“

Ist der nun bei einer Auktion in Metz aufgetauchte Wolfskopf der 1906 in Antwerpen ausgestellte authentische Kopf des 1893 erlegten letzten Luxemburger Wolfs? Übereinstimmend ist, dass es sich lediglich um einen Kopf und nicht um ein Ganzkörperpräparat handelt. Da die Wölfe als Schädlinge angesehen waren, wurden auch nur wenige Exemplare ausgestopft, wenn sie besonders stattlich waren oder sich eine besondere Geschichte mit ihnen verband. Das Präparat liefert jedenfalls keinen weiteren Hinweise. Auf Nachfrage erklärte das Metzer Auktionshaus: „Nous ne révélons pas l’identité de nos clients. Il s’agit de descendants d’une famille luxembourgeoise. Il était de tradition dans la famille de dire qu’il s'agissait du dernier loup chassé au Luxembourg. Ce genre d’information, transmise par les vendeurs sur la foi d’une croyance familiale, est donnée à titre purement indicatif, sans garantie. Peut être s’agit il aussi ‚d’un des derniers‘ loups chassés dans cette région. L’objet est ancien.“

Je länger der letzte Wolf tot war, um so mehr verklärte sich sein Bild in der Erinnerung der Leute, wurde er vom Täter zum Opfer, vom Bösewicht zum Held. Hatte das Luxemburger Wort einen Tag nach seiner Niederstreckung triumphiert: „Die ganze Gegend ist erleichtert, hat doch das Unge­thüm überall Schrecken und Furcht eingejagt“, so freute sich 15 Jahre später Oberförster Ernst Faber noch im Bulletin de la Société des naturalistes und mit ihm wohl das ganze Land: „Die Wölfe sind zum Glück hierzulande völlig ausgerottet.“

Am 28. Februare 1937 brachte der Jägerverein eine Erinnerungstafel an einer Buche nahe des mutmaßlichen Abschussorts an. Darauf heißt es mit falscher Datumsangabe: „An dieser Stelle wurde am 24. April 1892 durch Herrn Eduard Wolff aus Luxemburg der letzte Wolf auf luxemburgischem Boden erlegt. Gestiftet vom Saint-Hubert Club 1937.“ Der Schütze, dem das Denkmal galt, war inzwischen 86 Jahre alt, er starb ein Jahr später, am 4. Juni 1938, als Ehrenrat am Obersten Gerichtshof und Offizier der Eichenlaubkrone.

Beim Anbringen der Gedenktafel rezitierte der Ingenieur und konservative Gelegenheitsdichter Sepp Thill sein Gedicht „Dem Wollef säi Plai­doyer“. 44 Jahre nach seiner Ausrottung und der Erfahrung des Ersten Weltkriegs ist nicht mehr der Wolf, sondern der Mensch das schlimmste Raubtier: „Mäi Stierwen ass eng Schéinheet [...] An Dir, Dir musst verschmuechten“ (verschmachten). Angesichts des heraufziehenden Zweiten Weltkriegs prophezeite der Wolf finster: „A wa vun Ärem Krichen / Zesumme fällt d’lescht Haus, / An ’t geet Iech wéi de Wëllef / [...] Wann d’Bëscher nees verwuessen, / keng Aaxt méi heet se ëm, / Da gëtt et Freed, Dir Hären, / Da komme mir erëm.“

Dann geriet der letzte Wolf ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit. Bis das Wirtschaftswunder und der Fortschrittsglaube nach dem Zweiten Weltkrieg in die Krise gerieten und die Umweltschutzbewegung aufkam. 1977 stieß Tageblatt-Journalist und Schriftsteller Josy Braun auf das Wollefs-Denkmal in Olingen, vier Jahre vor der Gëlle Fra, und begann dafür zu werben. Mit Erfolg: Am 28. September 1985 wurde im Olinger Wald erneut des letzten Wolfs gedacht, diesmal wurde dem Opfer im Kampf zwischen Natur und Zivilisation nachgetrauert. Aus dem Denkmal für den Jäger wurde eine Denkmal für den Wolf. Derr Musiker Gerard Bintner trug Sepp Thills Ballade vor, sie war zum Menetekel der Umwelzerstörung geworden. Doch der Wolfskopf blieb verschwunden, der „aufgestopfte Balg des ‚falschen‘ letzten Wolfes, der 1985 für einen Tag seine Vitrine verlassen durfte“, so Jos. A. Massard, wurde während der Gedenkfeier ausgestellt.

Gemeinde, Forstverwaltung und Jägervereinigung ließen danach die mit der Buche verwachsene Erinnerungstafel auf einen Steinbrocken montieren. Am 29. September 1997 wurde sie erneut eingeweiht, Josy Braun übernahm den Nachruf.

Heute führt ein sauber angelegter Wanderweg am mutmaßlichen Abschussort vorbei. Eine Holzbank lädt zum Verweilen ein, Sepp Thills Gedicht steht gegenüber auf einer neuen Tafel. Die am Satelliten-Geschäft reich gewordene Gemeinde Betzdorf ließ aus dem einst gefürchteten Schädling eine Karikatur machen: Ein lachender Wolf mit Sonnebrille und Fotoapparat soll den Wanderern den Weg weisen. Ein anonymer Tierfreund hat auf die gusseiserne Tafel des Jägervereins „­IDIOTEN!“ gepinselt.

Romain Hilgert
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