Roff: ein Roman mit dem Feeling einer Graphic Novel und der Präzision einer wahren Lebensgeschichte

Pétange is a fucking ghetto

d'Lëtzebuerger Land vom 29.11.2024

Luxemburg nach dem 2. Weltkrieg. Genauer: Petingen nach dem 2. Weltkrieg. Boy lebt bei seiner Großmutter – seine Mutter ist gestorben, als er noch jung war, sein Vater unbekannt. Kurz vor seinem 18. Geburtstag erkennt der junge Mann mehr und mehr, dass er sich seinen eigenen Weg bahnen muss: Zwischen den verschiedenen Sprachen in seinem Alltag in Luxemburg, zerbrechlichen Freundschaften und der sich verändernden Gemeinde Petingen, der Entdeckung seiner Sexualität und der ersten Verliebtheit, seiner Liebe zu Büchern und seinen ersten eigenen Texten ... sucht er vor allem sich selbst und seinen eigenen Platz in dieser Welt.

Claudine Munos Roff ist ein bemerkenswerter Roman, der die komplexen Themen von Identität, Migration und Zugehörigkeit im Luxemburg der Nachkriegszeit bis heute behandelt. Das Buch ist eine Mischung aus persönlicher Erzählung und historischen Reflexionen, die mit Collagen und Musik gespickt sind. Doch vor allem ist der Text eins, nämlich unglaublich leicht, ehrlich und echt; entfaltet er sich in einer einfachen, zugänglichen und direkten Sprache und nimmt die Lesenden mit auf eine Reise durch eine aufregende Zeit im Leben eines jungen Mannes, der in einer Gesellschaft voller Widersprüche lebt.

Boy kämpft nicht nur mit dem Verlust seiner Mutter und dem Unwissen darüber, wer sein Vater ist, sondern auch mit der Frage, wie er in der Welt der Erwachsenen seinen Platz finden kann. Das liegt nicht nur an den unklaren, oft unausgesprochenen gesellschaftlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit – wie der Vergangenheit seiner Bezugspersonen wie dem ehemaligen Épicier Wanderscheid, der sein Bein verloren hat und gewiss einige Leichen im Keller hat, oder an der fragmentarischen Familiengeschichte, die seine wortkarge, doch liebende Großmutter nur bruchstückhaft verrät – sondern auch an den Veränderungen in Petingen und der wechselseitigen Wahrnehmung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Gemeinde, die von Migration geprägt ist. Inmitten dieser Herausforderungen sucht Boy nicht nur als angehender Schreibender nach seiner Verbindung zur Kultur und den Sprachen Luxemburgs, sondern auch als junger Erwachsener nach seiner eigenen sexuellen Identität. Roff ist nicht nur die persönliche, intime Geschichte von Boy, sondern auch eine Erzählung über das kollektive Gedächtnis in Luxemburg sowie über die Auswirkungen von Migration auf Identität und Gemeinschaften.

Munos Erzählweise ist vielschichtig, kurz und präzise und voller lebensnaher Beobachtungen. Sie mischt Erzählung, Erinnerungen in Form von historischen Augenzeugenberichten und realen Ereignissen mit visuellen Collagen aus Zeitdokumenten, die wie eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart wirken, zwischen Realität und Traum, Imagination und Erlebtem. Diese kreative Vielschichtigkeit wird durch die eigens für den Roman komponierten Songs von Michal Pepol verstärkt, die während eines Aufenthalts des polnischen Komponisten in Luxemburg entstanden sind und Aufnahmen aus dem Alltag der Gemeinde zu atmosphärischen Stimmungsbildern verdichten. Der Einfluss verschiedener Kulturen und Sprachen ist allgegenwärtig und passt zur Lebensrealität in Luxemburg, was zum Beispiel durch die nur Französisch sprechende Großmutter und ihre Rolle als Sprachbarriere in Boys Leben zum Ausdruck kommt. Roff spricht so auch eine junge luxemburgische Generation an, die sich der Frage stellt, was es bedeutet, Luxemburgisch zu sein – in einer Welt, die zunehmend globaler wird.

Roff ist ein außergewöhnliches Werk, das mit Leichtigkeit und zugleich Tiefe die Herausforderungen und Schönheiten des Erwachsenwerdens zeigt. Munos Schreibweise ist klar, doch tiefgründig, durch ihre Fähigkeit, Geschichte und persönliche Erfahrung leicht miteinander zu verweben. Die Mischung aus Literatur, Kunst und Musik macht Roff zu einem einzigartigen Erlebnis, das weit über das reine Lesen hinausgeht: Der Text hat das Feeling einer Graphic Novel und die Präzision einer wahren Lebensgeschichte, die gut recherchiert und mit Quellen belegt wird. Es ist eine Geschichte, die sowohl persönlich ist als auch universell – und das Porträt eines Landes und eines Individuums, die sich durch Fragen, Weiterfragen und Nachfragen nach und nach selbst konturieren können.

Claudine Muno:

Claire Schmartz
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