Eine ganze Menge Tinte wurde schon vergossen, aber die Zäsur, die mit der Auszeichnung der Palme d'Or an Julia Ducournaus zweiten Film Titane gesetzt wurde, ist in vielerlei Hinsichten nicht zu unterschätzen. Vor allem ist es in der fast 75-jährigen Geschichte erst das zweite Mal, dass eine Regisseurin den Hauptpreis gewinnt. Beim ersten Mal vor fast 30 Jahren erhielt Jane Campion diesen Preis noch zusammen mit dem Chinesen Chen Kaige. Kein ex aequo dieses Mal. Und schon gar nicht beim kritischen Empfang.
Titane ist ein Film über verhaltensgestörte Menschen, die auf ihre Art und Weise versuchen, offene Wunden zu heilen. Manchmal sind diese Wunden wortwörtlich zu verstehen. Nach einem Autounfall muss Alexia im Kindesalter eine Titanplatte auf den Schädel operiert werden. Doch irgendetwas stimmt mit ihr. Die Beziehung zu ihren Eltern ist nicht existierend und auch sonst scheint Alexia irgendeine Schraube (an der Titanplatte?) locker zu haben. Die Tänzerin entledigt sich mit ihrer Haarnadel zu Beginn noch lästiger, gaffender männlicher Verehrer, meuchelt sich später jedoch durchs Weltgeschehen und macht auch nicht vor der Verwandschaft halt. Doch irgendwann wird sogar ihr die Luft zu dünn und sie flüchtet vor der Polizei. Um nicht entdeckt zu werden, entscheidet sie sich, ihr Äußeres zu verändern – Haare weg, Nasenbruch und der Versuch, den sichtbar schwangeren Bauch zu verstecken. Ach ja, Alexia hatte einige Szenen davor Sex mit ihrem Auto, das sie allem Anschein nach geschwängert hat. Auftritt Vincent Lindon in der Rolle eines trauernden Feuerwehrmannes, der ihn Alexia den Sohn wiedererkennt, der seit zehn Jahren als vermisst gilt.
Weitaus überraschender, als dass eine Frau den prominenten Filmpreis gewinnt, ist die Tatsache, dass das sogenannte Genrekino prämiert wurde. Dieses Kino hat es auf der Croisette traditionell schwerer, versteht sich das Filmfestival als wichtigste Bastion des Autorenkinos. Dass es Julia Ducournau nach ihrem fulminanten Debüt Grave bei der Semaine de la critique in den Hauptwettbewerb schaffen würde, ist retrospektiv nachzuvollziehen. Mit der Palme d'Or hat aber niemand gerechnet. Die französischsprachige Kritik ist zum Teil entsetzt, sieht in Ducournaus Film jetzt schon den Ursprung einer bedenklichen Erneurung des französischen Kinos. Eine Kritiker-Schule, die noch vor Jahrzehnten die Regisseure der Hollywood-Maschinerie und somit der Blaupause des Genrekinos zu grand maîtres anerkannt hat.
Aber Titane ist eben kein Genrefilm per se. Anhand von Versatzstücken aus Genres baut sich Julia Ducournau einen Film zurecht, der weitaus mehr Kunstkino ist, als es verschiedene Besprechungen zugeben würden. Die Regisseurin lässt nicht nur ästhetisch und formell den Film in alle Richtungen in die Gänge kommen. Wo Regisseure, auf die sich Ducournau bezieht – natürlich Cronenberg, aber auch Carpenters Christine ist nicht weit weg –, hinter der visuellen Fassade und dem dispositif fantastique oft sozio-politische Kommentare verstecken, hebelt Titane diese Tradition aus. Den Film interessieren keine Kommentare. Wie der Film visuell in alle Richtungen schlägt, tut er es genau so auf dramaturgischer Ebene. Es ist aber das Drehbuch, das dem Film einen Strick drehen könnte. Dechiffrierung der Natur des Bösen, Infragestellung von klaren Gendervorstellungen – die in Titane sogar eher als Motoröl-Fluide verstanden werden könnten –, Transgression, Appropriation des male gaze anhand von Exhibition und oft naturgegebene Transformationen, die mit den Augen Ducournaus mit (Selbst-)Verstümmelung gleichgestellt werden. Für die Regisseurin scheint ihr neuer Film die letzte Gelegenheit zu sein, pechschwarze Obsessionen und Fetische zu thematisieren. Vor allem aber ist ihr Film der Versuch eines Porträts zweier verlorener Seelen, die irgendwie versuchen, einen Restfunken Menschlichkeit und Nächstenliebe zu erfahren. An Dringlichkeit ist ihr Film nicht zu überbieten.
Weil ihr Film jedoch aus Faulheit und einer nicht angebrachten Erwartungshaltung als Genrefilm klassiert wird, kann Titane und sein Hang zur thematisch dramaturgischen und ästhetischen Überreizung nur als inkonsequent verstanden werden. Weniger wäre, wie so oft, vielleicht genau so viel gewesen. Titane punktet mit einer glasklar durchzogenen Inszenierung und einer fantastischen Besetzung, überrascht trotzdem – vielleicht auch aus der gleichen unangebrachten Erwartungshaltung – weniger als der Debütfilm. Grave ist der bessere Film, Titane bleibt trotz allem – und ohne jeden Wettbewerbsfilm gesehen zu haben – ein würdiger Palme d'Or-Gewinner. Für das Festival, wie auch für das französische Kino.