Deutschland

Ein Männlein steht im Walde

d'Lëtzebuerger Land du 03.06.2022

Über sein Gesicht huschte ein Ausdruck des Erstaunens: Olaf Scholz (SPD) schaute an jenem Sonntagabend im September letzten Jahres ungläubig in die vielen Fernsehkameras und konnte es wohl selbst nicht glauben, dass er mit seiner Partei die Bundestagswahl gewonnen hatte. Doch das Momentum der Verwunderung hielt nur einen kurzen Augenblick, dann ließ sich Scholz feiern. Ausgiebig. Mit aller ihm gebotenen Emotionalität. Er wolle eine neue Politik begründen, ein neues Regierungsbündnis schmieden, neue Maßstäbe setzen, neue Einigkeit und Solidarität formen, das Land wieder zusammenführen. Es war viel „neu“ und „anders“, „Aufbruch“ und „Zeitenwende“ an jenem Wahlabend, wie auch in den Tagen der Koalitionsverhandlungen, der Regierungsbildung und dem Start in die Ära nach Kanzlerin Angela Merkel. Doch nach dem Rausch über den unerwarteten Erfolg herrscht nun Katerstimmung auf der Berliner Regierungsbank, kaum dass die sogenannte Ampelkoalition von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen mehr als einhundert Tage im Amt ist. Und diese wird von Landtagswahl zu Landtagswahl schlimmer. Für FDP und SPD. Nicht aber für die Grünen.

Nach den Jubelstürmen der Sozialdemokraten zur gewonnenen Landtagswahl in Saarbrücken folgte Ernüchterung in Kiel und insbesondere in Düsseldorf am vorvergangenen Wochenende. Nirgendwo schmerzen Niederlagen mehr als im oft beschworenen Mutterland der SPD. Diese einstige Bastion der Sozialdemokratie wollten die Parteigranden nicht so schnell verloren geben. Dies erklärt das Auftreten von Partei-Co-Chef Lars Klingbeil und Generalsekretär Kevin Kühnert – kaum dass die Wahllokale geschlossen waren. Kämpferisch und selbstbewusst, wenn auch realitätsfern verkündeten sie, dass die Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen ihr wichtigstes Wahlziel erreicht habe: Die bisherige dort regierende Koalition von CDU und FDP abzuwählen. Und schließlich sei es auch als Unterlegener möglich, eine Regierung zu bilden, schob Kühnert nach. Selbst der Bewertung, dass das Wahlergebnis „eine klare Niederlage“ sei, widersprach der Generalsekretär trotzig bis motzig den ganzen Wahlabend lang. Es wurden Erinnerungen wach an eben jene Bundestagswahl, als der konservative Kanzlerkandidat Armin Laschet seine Niederlage nicht einräumen wollte und noch tagelang darüber schwadronierte, eine Bundesregierung unter Führung der Christdemokraten schmieden zu wollen.

Doch in Nordrhein-Westfalen kommt nun zusammen, was für viele Bürgerinnen und Bürger zusammengehört: eine schwarz-grüne Regierung. Während die Grünen vor allem in städtischen Regionen und dort im akademischen, linksliberalen Milieu punkten, gelingt es der CDU konservative Schichten und vor allem den ländlichen Raum an sich zu binden. Die Versöhnung von links und rechts, Stadt und Land, von Akademikerinnen und Handwerkerinnen, von Liberalismus und Kommunitarismus, von Modernisierungsgewinnern und -verlierern könnte gelingen. In einem Land, das sich rechthaberisch darüber zofft, dass das bürgerliche Miteinander immer weniger gelingt, gibt es derzeit wohl keine zwei Parteien, die in dieser Situation besser Brücken bauen können – aus entgegengesetzten Richtungen: Die CDU als Garant der Sicherheit und damit als Wahrer der Gegenwartsinteressen und die Grünen als progressive Zukunftspartei. Die SPD wird als Partei der Vergangenheit weiter abgehängt werden.

Wie die Freien Demokraten sind auch die Sozialdemokraten tief in der Wählergunst gesunken. Dies mag zum einen daran liegen, dass es auch in Deutschland ein ungeschriebenes Gesetz des Checks and Balances, von Gewicht und Gegengewichten geben mag. Parteien, die die Bundesregierung stellen, wird auf Landesebene ein Korrektiv gegenübergestellt. Dies trifft in erster Linie die Partei, die den Regierungschef stellt. Dabei hilft, dass viele Landtagswahlen Persönlichkeitswahlen geworden sind, von denen der jeweilige Amtsinhaber profitiert – oder mit dem die jeweilige Regierungspartei untergeht, wie es das Beispiel des Christdemokraten Tobias Hans im Saarland zeigte. Doch die derzeitige Situation der deutschen Sozialdemokratie ist vor allen Dingen auch dem Spitzenpersonal geschuldet: Ein Bundeskanzler, den sein Volk nicht versteht – und umgekehrt –, wie auch ein Parteispitzenduo mitsamt Generalsekretär, das die Politik von Olaf Scholz nicht erklären kann.

Zur Methode Scholz gehört, dass er dickköpfig, stur sein kann, sich nicht treiben lassen möchte, aber doch ein Getriebener ist, etwa wenn der ukrainische Botschafter vehement deutsche Waffenlieferungen einfordert. Als wäre der Krieg allein durch deutsche Waffen zu gewinnen. Entscheidend ist vielmehr die Lieferung aller Nato-Staaten gemeinsam. Doch auch hier verschreckte die harmoniehysterische Politik von Kanzler Scholz mehr, als sie eine verlässliche Politik und Partnerschaft darstellt. Sein Festhalten an Gerhard Schröder, an der Pipeline Nordstream, an der Macht der Diplomatie, isolieren ihn und Deutschland zusehends.

Olaf Scholz zu erfassen, ist eine Wissenschaft für sich. Er überrascht, als er in den Tagen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eine historische Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik ankündigt und etwa ein Sondervermögen für die Bundeswehr einrichten möchte, oder als er Ende April im Bundestag die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine verspricht – danach aber nicht, zögerlich oder einfach anders liefert. Seine Politik verläuft im Sande. Dies ist fatal in der heutigen Zeit mit ihren Herausforderungen. Dieses Unerklärliche von Politik und Handeln bringt Scholz und die SPD immer mehr in die Defensive, lässt die Genossinnen und Genossen verzweifeln, da sie an der Basis für den Kanzler einstehen müssen. Hinzu kommt seine unglückliche Personalpolitik. Während sich die Grünen schnell von der überforderten Familienministerin Anne Spiegel trennten, hält Scholz in Nibelungentreue zur nicht minder überforderten Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Dies mag ein Zeichen von Solidarität und Loyalität sein, andererseits offenbart es aber auch, dass die SPD personell ausgebrannt ist und Scholz keine Alternativen hat. So erklärt sich auch der kometenhafte Aufstieg eines Kevin Kühnert, der nun seine Überforderung ebenfalls zur Schau stellt. Er jammerte dieser Tage, dass er trotz eines Monatsgehalts von 10 000 Euro keine Wohnung in Berlin finde.

Vielleicht braucht er keine mehr: In Berlin wird derzeit eruiert, ob in der Hälfte der Wahlbezirke der Hauptstadt die Bundestagswahl wiederholt werden muss. Der Bundeswahlleiter Georg Thiel besteht darauf. Dies könnte auch das Mandat von Kevin Kühnert gefährden.

Martin Theobald
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