Nach den Sommerferien werden erstmals Schüler der Sekundarstufe im Fach „Leben und Gesellschaft“ unterrichtet. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren

Neue Sachlichkeit

d'Lëtzebuerger Land du 15.07.2016

Fehler und Versäumnisse offen einzugestehen, ist unter Politikern selten. Lieber wird versucht, den Wählern mit Errungenschaften zu imponieren. Erziehungsminister Claude Meisch (DP) betonte am Donnerstag voriger Woche im Parlament, wie „transparent“ und „im Dialog“ die Vorbereitungen für das Fach „Leben und Gesellschaft“ gelaufen seien. Der CSV-Abgeordnete Laurent Zeimet widersprach, zu Recht: Die versprochene Konsultation im Drei-Monatsrhythmus, die zwischen der ministeriellen Arbeitsgruppe, dem Cercle de coopération des associations laïques (CCAL) und dem Conseil des cultes stattfinden sollte, kam nur einmal zustande, Sitzungsberichte und Gutachter-Stellungnahmen blieben geheim, eine Vorversion des Rahmenlehrplans wurde ohne Rücksprache mit der Arbeitsgruppe der Öffentlichkeit vorgestellt.

Das alles ist jetzt Schnee von gestern. Vergangene Woche verabschiedete die DP-LSAP-Grüne-Mehrheit das Gesetz zum neuen Fach für die Sekundarstufe gegen die Stimmen von CSV, Déi Lénk und ADR und setzte insofern historische Maßstäbe, als sich damit ein jahrzehntelanger Kulturkampf dem Ende zuneigt. Nach monatelangem Tauziehen, Geheimverhandlungen und kontroversen Diskussionen zwischen Religionslehrern und Moralkundelehrern, zwischen katholischer Kirche und säkularen sozial-liberalen Regierungsparteien wird die Aufspaltung in Moralkunde und Religionsunterricht in der öffentlichen Schule beendet.

Dass der Staat dabei „absolut keine Werte vorgebe“, wie Claude Meisch im Parlament betonte, stimmt so freilich nicht: Sowohl im Motivenbericht als auch im Rahmenlehrplan steht, Ziel sei, Schüler zu befähigen, sich in einer „multikulturellen Gesellschaft orientieren und verständigen“ zu können, sich „in einer demokratischen Gesellschaft verantwortungsbewusst“ mit einzubringen. Meisch zufolge gehe es darum, „Kinder zusammenzuführen, die aus unterschiedlichen Horizonten“ kommen, sie auf die heutige „plurikulturelle und plurireligiöse Gesellschaft“ vorzubereiten, dass sie kritisch denken lernten, „Toleranz“ entwickelten und „Respekt“ gegenüber anderen. Das ist nichts anderes als ein Wertekanon.

Genauso wenig ist „Leben und Gesellschaft“, wie es der CCAL und déi Lénk verkürzt behaupten, „ein Mischmasch“. Denn obschon der mehrfach überarbeitete Rahmenlehrplan viele Redundanzen (Ermahnung zur Neutralität) und Floskeln (Zusammenleben) enthält, ist das Ergebnis keine simple Addition der alten Inhalte von Moral- und Religionskunde. Streng genommen gab es nie den einen Religions- und den einen Moralunterricht: Dafür waren die Ausbildungsvoraussetzungen zu unterschiedlich, hing der Unterricht zu sehr von der jeweiligen Lehrkraft ab. In der Religion wurde nicht selten Wissen gepaukt, um nicht in den Ruf zu kommen, zu missionieren. Für die Moralklassen hatte sich mit der Praktischen Philosophie ein Lehransatz durchgesetzt. Doch im Lycée Ermesinde waren es Klassenlehrer, die den Kurs hielten, während es anderswo studierte Philosophen waren.

Seit Frühjahr liegt mit dem elfseitigen Rahmenlehrplan ein kompetenzorientierter Leitfaden für Grund- und Sekundarstufe vor, welcher die sechs Themenfelder, Lernziele und methodische Perspektiven vorgibt, um die sich das Fach aufbauen soll. Um Lehrkräften eine Idee zu geben, wie der Unterricht methodisch-didaktisch gestaltet werden kann, stellt das Ministerium Handreichungen zur Verfügung, die es gemeinsam mit Religions- und Morallehrern entwickelt (hat). Dabei handelt es sich um Fallbeispiele, etwa zu ethischen Fragestellungen wie die Flüchtlingskrise. Schüler sollen Fakten wissen, Akteure kennenlernen, sich in Mitmenschen und Situationen hineinversetzen und kritisches Denken schulen. Bei der Presse-Präsentation hakte es noch ein wenig, manche Beamten scheinen im kompetenzorientierten Vokabular zwischen Lernzielen, Kompetenzstufen, Bezugswissenschaften selbst nicht immer sattelfest. Es finden sich Schreibfehler und andere Patzer, etwa den Begriff des „Asylanten“, der politisch Sensiblen die Röte ins Gesicht treiben dürfte. Sie sind mit dem hohen Zeitdruck – die ersten Klassen starten nach den Sommerferien – zu erklären.

Eine Handreichung für die 8e des technischen Sekundarunterrichts EST zum Thema „Glauben und Wissen“ schlägt die kritische Auseinandersetzung mit „Kreationismus versus Evolutionismus“ vor. Dass die Schöpfungsideologie im Rahmenlehrplan unter „Große Fragen“ steht, ist an sich schon bemerkenswert und zeigt, dass es mit der behaupteten Vernachlässigung christlicher Glaubenslehren so weit nicht her sein kann. Es war die Liberale Anne Brasseur, die auf die Gefahren kreationistischer Einflussnahme auf die Schulbildung hinwies. Unter ihrer Mitwirkung verabschiedete der Europarat in Straßburg 2007 ein Dokument, das davor warnt, ein Vormarsch der Schöpfungslehre in Europa könnte zur „Bedrohung der Menschenrechte werden“. Nun hält der Kreationismus ausgerechnet unter einem DP-Minister Einzug in den Unterricht; um Schülern den Unterschied zwischen Glauben und Wissen zu vermitteln, jedoch in Form „eines Vorschlags“, wie Regierungsberater Lex Folscheid betonte.

Was die vom Conseil des Cultes, von Wort-Journalisten und Religionslehrern beklagte mangelnde Auseinandersetzung mit den Weltreligionen betrifft: Sowohl erklärte Atheisten als auch Vertreter der großen Religionen wurden vom Ministerium aufgefordert, Materialien als Leitfaden für die Auseinandersetzung mit ihrer Weltanschauung zusammenzustellen. Lehrer können diese nutzen; den Interessenvertretern wäre lieber gewesen, ihre Ideen wären direkt in den Unterricht eingeflossen. Das aber läuft dem Neutralitätsgebot der Schule zuwider. Und dass das neue Fach darauf aufbaut, betont der Rahmenplan mehrfach ausdrücklich.

Insgesamt scheinen sich die Wogen aber geglättet zu haben, wenn man vom letzten Aufbegehren der CSV in der Parlamentsdebatte absieht. Laurent Zeimet verteidigte den Religionsunterricht in der Schule (obwohl seine Partei laut Wahlprogramm mit einem Werteunterricht auf der Sekundarstufe leben kann), „besonders auch weil wir an einer öffentlichen Schule festhalten wollen“ – und riss damit alte Gräben und Gegensätze auf. In der ministeriellen Arbeitsgruppe bemühen sich beide Seiten dagegen, jetzt, da die ideologische Schlacht (fast) geschlagen ist, um eine professionelle Haltung. Die inhaltlichen Fortschritte erklären sich auch dadurch, dass die Experten um Jürgen Oelkers an der Ausarbeitung der Handreichungen nicht beteiligt sind. Mitglieder bestätigen, den Schweizer „seit Monaten nicht mehr gesehen“ zu haben, das Ministerium schreibt, Oelkers wissenschaftliche Begleitung beschränkte sich auf die „Entwicklung des Rahmenlehrplans“. Er bleibe Berater und bekomme die Stunden bezahlt, die er arbeite. Frühere Spannungen waren auch auf Oelkers Auftreten und auf seine Vorstellungen zurückgeführt worden, die teils deutlich von denen der Arbeitsgruppe abwichen. Oder wie ein Mitglied es formuliert: „Die Schweizer haben Probleme mit dem Zusammenleben an die Wand gemalt, die wir im multikulturell geprägten Luxemburg nicht sehen.“

Den Kernlehrplan, der die Kompetenzsockel für alle Jahrgangsstufen des EST und ES definiert, soll ab nächstem Schuljahr die neue Programmkommission gemeinsam mit dem Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script) erstellen. Dann sollen auch die rund 70 Handreichungen für die Sekundarstufe fertig sein. Die ersten sind unter www.vieso.lu einzusehen. Dort können sich auch Schüler und Eltern über das Fach informieren. Den Ansatz, zunächst einen Rahmenlehrplan zu erstellen (wenn nötig mit externer Hilfe), der dann von Lehrern mit Inhalt gefüllt und Akteuren aus der Zivilgesellschaft zur Begutachtung vorgelegt wird, soll auch bei anderen Fächern zum Tragen kommen. So hofft das Ministerium, die Qualität und Aktualität der Lehrinhalte zu verbessern.

Derweil hat die verpflichtende 16-stündige Einführung am Lehrerfortbildungsinstitut Ifen in Walferdingen mit 233 Teilnehmern begonnen. Es sind noch 105 Plätze frei. Die 135 Teilnehmer der Oktober-Fortsetzung werden teils auf neue, teils auf bekannte Gesichter stoßen: Peter Flohr und Sascha Mühlenberg hielten früher Kurse zur Praktischen Philosophie und führen nun ein in das Wahlmodel „Große Fragen“, Edwige Chirouter von der Uni Nantes, eine von der Unesco anerkannte Expertin in Philosophie für Kinder und Jugendliche, wird die Schwerpunkte „Ich“ und „Ich und die Anderen“behandeln. Die Theologin Katharina Peetz von der Uni Saarland und der Sozialethiker Jochen Ostheimer aus München stellen das Modul „Mensch, Natur, Technik“ vor. Katharina Ogris und Livia Neureiter von der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule in Graz leiten Lehrgänge zum interreligiösen und interkulturellen Lernen.

Ihnen, den Programmkommissionen und Lehrern, obliegt die schwierige Aufgabe, den Rahmenlehrplan mit Leben zu füllen, dem neuen Fach eine eigene Identität zu geben. Vertreter insbesondere der Praktischen Philosophie hatten zuvor das Fehlen einer Leitwissenschaft bemängelt. Denn in Zukunft werden diplomierte Lehrer, Politologen, Philosophen, aber auch Theologen und Religionswissenschaftler das Fach „Vie et Société“ unterrichten können, sofern sie die 16-stündige Pflichteinführung absolviert haben. Skeptiker kritisieren, das reiche nicht aus. Es werde weiter „auf die individuelle Auslegung des Einzelnen“ ankommen. Das Ministerium hält dagegen, das Ifen werde nach einer Übergangszeit weitere Fortbildungen anbieten. Hospitationen und regelmäßige Austausche sollen zudem helfen, Probleme bei der Umsetzung frühzeitig zu detektieren und zu beheben.

Im Prinzip gilt dieselbe Vorgehensweise auch für die Umsetzung des Rahmenlehrplans in der Grundschule. Die Herausforderung ist aber um ein Vielfaches größer, weil geschätzte 1 200 bis 1 500 Grundschullehrer den Einführungskurs besuchen müssen. Wie viele genau, weiß nicht einmal das Ministerium. Anders als auf der Sekundarstufe, wo Fachlehrer mit dem Unterricht beauftragt sind, werden in der Grundschule neben den Klassenlehrern Lehrer und Lehrbeauftragte mit ganz unterschiedlichen Profilen eingesetzt. Sie rechtzeitig auf das neue Fach umzustellen, wird eine gewaltige logistische Anstrengung. „Wir werden einige Jahre brauchen“, bekräftigt Ifen-Direktor Camille Peping. Die Vorarbeiten laufen auf Hochtouren: Für die Grundschule erstellt eine Arbeitsgruppe mit je zwei Religions- und Moralkundelehrern unter Anleitung von Robi Brachmond derzeit einen Lehrplan, der den Rahmenlehrplan auf die Grundschulzyklen herabbrechen soll. Die Inhalte und Methoden für den zweiten und dritten Zyklus stehen, der vierte Zyklus sollen in diesen Tagen abgeschlossen werden. Als Partner für Schulmaterialien ist der sächsische Fachbuchverlag für Ethik und Philosophie, Militzke, im Gespräch, mit dem das Erziehungsministerium schon früher zusammengearbeitet hat. Er soll auch die wissenschaftliche Begleitung stellen.

Ohne Kontroversen verlaufen die Beratungen zur Grundschule freilich nicht: Insbesondere die Frage, wie viel Raum den faits réligieux, als religiösen Inhalten und Gebräuchen, im Stundenplan einzuräumen sind, ist umkämpft. Die einen wittern missionarische Einflussnahme, die anderen pochen auf einen stärkeren Religionsbezug gerade in der Grundschule. Kirchenvertreter Jean-Louis Zeien hatte dem Land im November gesagt: Das sei sonst so, als würde „ein Bauer noch im Juni das Feld säen“. Der Erziehungsminister drückt derweil aufs Gaspedal: Im nächsten Frühjahr muss der Entwurf für die Grundschule verabschiedet sein, damit die Fortbildungen im Februar 2017 beginnen, der Unterricht zur Rentrée 2017-2018 starten kann – und die Politiker ihre Energien ganz auf die nächsten Wahlen konzentrieren können.

Ines Kurschat
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