Die kleine Zeitzeugin

Es soll immer Schweiz sein!

d'Lëtzebuerger Land du 08.06.2018

Wenn ich nicht einschlafen kann, denk ich an die Schweiz. Es gibt nichts Beruhigenderes als dieses Land, propper hinter Bergen verpackt, an blitzend sauberen Seen, wo alles so klar ist, so elementar, die Luft, die Speisen, die Menschen. Die Leute schauen einer offen ins Antlitz, freimütig äußern sie sich in einer rauen, aber herzlichen Sprache. Die Sprache ist wie die Topografie, beschwingt schwingt sie sich auf und ab, dass einer ganz lustig zumute wird, mit all den kindlichen i-Anhängern auch noch wie bei einer fröhlichen Achterbahn. Und doch so bodenverständig. Und alles so gesund menschenverständlich. So ein Wort würde man in einem Nachbarland gar nicht in den Mund nehmen, man müsste sich gleich erklären.

Eine heile Welt, sogar das Wort „heil“ darf man hier aussprechen, ohne sich selber verdächtig vorzukommen. In diesem Land wachsen Berge, aber auch der Beton wächst, auch er freimütig und unkompliziert, Betonkomplexe bauen sich auf hinter dem Bilderbuchdorf, sie gehören dazu, sind nicht ungehörig oder gar feindselig, auch die Zukunft gehört in der Schweiz dazu. Alles ist beruhigend stattlich, stabil, auch die Menschen sind

solide und zugleich liquid. Sie arbeiten lange und viel und stimmen in Volksabstimmungen gegen allzu viel Freizeit ab, die die Wurzel allen Übels ist. Nach Feierabend pilgern sie mit ihrem nach präzisen Regeln im mit ermunternder Aufschrift versehenen Ein-Fränkli-Säckli appetitlich eingepackten Müll zu dem dafür vorgesehenen Container. Wenn sie unter sich sind, sind sie laut; wie die Luxemburger_innen lachen sie aus vollem Hals und aus vollem Bauch, es gibt nichts Ohrenbetäubenderes als ein Rudel Schweizer Senior_innen um einen vollen Tisch. Nichts für an Gänsefederkielen nagende Kaffeehausdichterinnen. Sowieso sind alle Tische in allen Cafes immerzu voll, denn diese Schweizer_innen treten nur paar- oder bandenweise auf, die Singles, die durch Rest-Europa irren, sind noch nicht erfunden.

Diese Menschen reden wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, so ähnlich schreiben sie auch, mal unkompliziert, mal superkomplex. Zum Beispiel wenn sie vom „Ausschaffen“ sprechen, damit meinen sie meist Menschen, die noch nicht lang da sind und hoffentlich nicht mehr lange, ein Terminus, bei der Anfängerin zusammen zuckt: Darf man etwas so Brutales so brutal benennen? Aber sie sind eben so geradeheraus, sie haben ja nicht die Geschichte auf dem Buckel wie ihre deutschsprachigen Nachbar_innen, sie müssen nicht jedes Wort auf die Wortwaage legen. Die Weltwoche etwa macht sich so ihre Gedanken über die Fruchtbarkeit somalischer Frauen.

Aber für jene, die die Schweizer-Macher_innen von sich überzeugen können, steht einer Verschweizerung nichts mehr im Weg. Das ist das, was die Schweiz bietet und was sie fordert. Jugendliche, deren Hintergründe nicht vordergründig sind wie in den meisten EU-Ländern, reden Schwyzerdütsch untereinander, ein Albaner, der Porsche fährt, muss kein Mafiosus sein, und in den entgegen aller Schweiz-Klischees gemütlich verwilderten Schrebergärten wehen die omnipräsente Schweizer Fahne und die Fahnen aller möglicher Herr_innen Länder heiter nebeneinander.

Durch die Stadt, in die viele kommen, um zu Geld zu kommen, gleiten Straßenbahnen im Sekundentakt, stromlinienförmige Herren in dunklen Anzügen steigen ein mit der klassischen Mappe unterm Arm. Wer aussteigt, kann sich tunken in den Züri- See, ohne einen Rappen zu berappen.

Wie soll Mensch also nicht glücklich sein an einem Ort, an dem Ovomaltine und Rivella fließen und sich Näpfe voller Müsli türmen? Wo es wohlig intim nach Chäs riecht, in dem die Menschen Käse verstehen, statt nur Käse zu reden? An einem Ort, wo auf Grabsteinen die Sonne aufgeht und in den Altstädten das Glockengedröhn den Schädel zerbersten lässt. Und wenn man dem Herrn hinterher läuft, findet man ihn nie, er ist in Kirchen eingesperrt, nie sind sie offen, und wenn, dann staunt man, es ist nichts drin. Er ist nicht drin. Vielleicht ist er im Käse.

Und im relativ intellektuellen Blatt NZZ trauert ein Gatte in einer Todesanzeige um seine exzellente Hausfrau.

So beruhigend, diese Schweiz.

Michèle Thoma
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