Diederich, Paul: Athenäum 1932-1946: Wohnort und Schule

Das Athenäum aus der Pedell-Perspektive

d'Lëtzebuerger Land vom 21.02.2002

Wäre ein Großteil der hierzulande erscheinenden Bücher so gut geschrieben wie ihre Deckel dick und hart sind, Luxemburg wäre literarisch Weltspitze. In der Tat, zur Not kann man zahlreiche Bücher hiesiger Machart sogar lesen; eignen tun sie sich aber eher, hat man Besseres nicht zur Hand, als Waffe oder Wurfgeschoss. Überdies schwört ein jeder Luxemburger Verleger bzw. Drucker auf ein anderes, ihm genehmes Buchformat; das Ergebnis ist auf den chaotisch zerklüfteten Bücherregalen der Sammler von Luxemburgensia zu besichtigen.

Die Druckerei und der Verlag des Heiligen Paulus, wiewohl vielfacher Monopolist, zählt dafür nicht unbedingt zum typographischen Adel der Branche. Verschlechtert hat sich die Lage in diesem Groß- und in vielen Kleinbetrieben noch zusätzlich seit dem Siegeszug des Computers; das Offset-Druckverfahren hat mehrere berufsstolze Handwerkssparten wegrationalisiert, unter dem Strich ist seither nahezu jeder Schreiber oderHer-ausgeber seines Bücherglückes Schmied. Auf der Strecke bleiben deshalb öfter als einem für die anspruchsvolle Publizistik lieb sein kann, der graphische Geschmack, die drucktechnische Sorgfalt und der Feinsinn für das literarische Genre: So Verleger oder Verfasser keine Sonderwünsche an das Layout ihrer Veröffentlichungen anmelden, werden die von vorneherein und immer öfter erbetenen Hausmacher-Disketten blind und bedenkenlos in Druckbögen umgefüllt, zu Büchern geheftet und schließlich noch in ein steifes, fingerdickes Deckelkorsett gepresst.

 

Ein Dokument der Zeit- und Schulgeschichte

 

Die gleich eingangs angemeldeten - zugegeben: etwas pauschalen - Bedenken gegenüber der Luxemburger Buchmacher-Branche werden dem Rezensenten von einer Publikation (jawohl, auch in den Schreib-PC!) diktiert, die - summa summarum - nicht nur für Freunde des bald 400 Jahre alten Athenäums (heute Nationalbibliothek), sondern auch für Forscher nach der Geschichte des höheren Unterrichts in diesem Lande eine unschätzbare Fundgrube darstellt: Paul Diederich, der Sohn des langjährigen, legendären Schulpförtners Nicolas (genannt Jang) Diederich, erinnert sich an seine Kinder-, Jugend- und Lehrjahre (1932-46) im altehrwürdigen Jesuitenkolleg. 

Die 480 Seiten starken, üppig bebilderten, mit aufschlussreichem Zahlen- und Register-Material untermauerten Erinnerungen des nachmaligen Finanzbeamten Paul Diederich kommen als Initiative der Anciens de l'Athénée übrigens einem weiteren, noch ungleich anspruchsvolleren, weil mehrbändigen Druckwerk zuvor, das für das demnächst anstehende 400-jährige Jubiläum einer Schule projektiert ist, die sich selber über die Jahrhunderte hartnäckig als Eliteanstalt empfunden hat und direktorial auch entsprechend geführt worden ist. 

Der ganz besondere Reiz von Paul Diederichs Athenäums-Memoiren besteht freilich darin, dass der klassisch-humanistische Schulbetrieb Luxemburger Prägung gewissermaßen aus der Froschperspektive erlebt und beschrieben wird: Paul Diederich ist als Sohn des (durchaus als Autorität fungierenden) strengen Pedells biographisch aufs engste, ja nahezu biologisch mit dieser ältesten Lateinschule verwachsen, die er selber bis zum Abitur absolviert. Er gebietet demnach über schier unerschöpfliches, nicht zuletzt über pikant anekdotisches Informationsmaterial; darüberhinaus fallen seine buchstäblich im Elternhaus durchlebten Pennälerjahre in die Ausnahmezeit der Nazi-Besatzung; es bieten sich ihm deshalb auch unzählige Gelegenheiten, hinter Kulissen zu leuchten, die nicht ohne Grund in anderen Chroniken gern beschwiegen werden. 

Nur, es darf  bedauert werden, dass der Memorialist Diederich uns unentbehrliche Detailinformationen über das Verhalten einiger Mitglieder des Lehrkörpers vorenthält und z.B. lediglich ausplaudert, wie sich die Mehrzahl der Professoren (und vormals Kollegen des Luxemburger Obernazis Damian Kratzenbergs!) an der Entbietung des Hitlergrußes vorbeigemogelt haben. Verwunderlich nimmt sich im nachhinein die Feststellung aus, daß der Schüler Diederich trotz mehrerer Jahre "urdeutschen" Unterrichts bis heute und für diese Erinnerungen immer noch ein von Luxemburgismen durchfilztes Deutsch schreibt.

Chercher la petite bête?

Zum Leidwesen des rührigen Sekretärs der Anciens de l'Athénée, Prof. Gilbert Maurer, der den umfangreichen Text des Autors Paul Diederich und dessen voluminöses Bild-, Statistik- und Tabellenmaterial mitsamt den aus des Verfassers Schuljahren erhaltenen detaillierten Tagebuchaufzeichnungen gebändigt, geordnet, auf seinem PC formatiert, als Diskette der Verlagsdruckerei buchstäblich frei Haus geliefert hat und sich damit nicht nur indirekt um die Dokumentierung und Überlieferung eines wichtigen, beileibe nicht bloß schulischen Kapitels unserer National-geschichte verdient gemacht hat, kommt ein auch nur halbwegs kritischer Chronist nicht um die Feststellung herum: diesem Diarium aus den Jahren 1932-46 in dem sich stetsals bestes, angesehendstes klassisch-humanistisches Gymnasium hat die St. Paulus Druckerei erschreckend wenig Pflege angedeihen lassen. 

Dieser Chronist kann fast nicht glauben, dass der ehemalige und langjährige oberste isp-Manager, Kanonikus André Heiderscheid, das Fundament seiner beachtlichen Karriere in dieser Schule gelegt und die Publikationen "seines" Athenäums sowie Literatur, die sich mit dieser Anstalt befasst, stets mit Vorzug behandelt habe. Paul Diederichs Memorial Athenäum 1932-1946 - Wohnort und Schule aber verlässt den erzbischöflichen Großbetrieb in einem derart blassen Schriftbild, daß man glauben könnte, in der Gaspericher Industriezone sei die Druckerschwärze ausgegangen; unter dieser Blässe leidet vor allem die erstaunlich und erfreulich reiche Bebilderung des Werkes.

Gelegenheitsschreiber wie Paul Diederich, Mathematikprofessoren wie Gilbert Maurer mögen sich noch so engagiert in den Dienst der Geschichtsschreibung über einen einzigartigen Luxemburger Schultypus spannen, auf dem Fachgebiet der Edition sind sie blutige Laien und hätten von einem Druckerei- und Verlagsbetrieb, der einen Namen zu verlieren hat, in punkto Layout sorgsam und einschlägig flankiert und beraten werden müssen; es hätte sich so u.a. auch die chaotische Betextung des an sich interessanten und unentbehrlichen Bild- und Dokumentationsmaterials vermeiden lassen. 

Der übergewissenhafte Autor Diederich und sein editorisch selbstloser Helfershelfer Maurer sind in ihrem Wälzer freilich auch das Opfer der eignen historischen Detailbesessenheit geworden: Sie listen seitenweise Abitur-Promotionen, Klassenjahrgänge, Schülergenerationen, Professorennamen etc. auf. Letztere dürften die vor allem von den Anciens des Athenäums teils mit Interesse, teils mit Abscheu, teils mit Sympathie, teils mit posthumem Zorn nachgelesen werden. Dass freilich der Autor Diederich Lehrer wie Jean-Eugène Giver, Jean Steffen, Albert Decker, Marcel Gérard, Emile Thiry und vor allem den bis ins hohe Alter noch bewundernswert aktiven Léopold Hoffmann deshalb nicht auf die Liste der noch lebenden Professoren gesetzt hat, weil sie zu seinen Schulzeiten an dieser Anstalt noch nicht unterrichtet haben, findet einer ihrer ehemaligen Schüler doch etwas kleinkariert.

Nicht um die voraufgegangene Erbsenzählerei vergessen zu machen, sei hier abschließend trotz aller Einwände bemerkt: der unterzeichnende ehemalige (mäßige) "Athenäer" wird Paul Diederichs Buch Wohnort und Schule noch lange in greifbarer Nähe aufbewahren und immer wieder in die auch Mitte des 20. Jahrhunderts reichbewegte Geschichte einer Anstalt abtauchen, die er mit Hass geliebt und mit Liebe gehasst hat.

 

Paul Diederich: Athenäum 1932-1946: Wohnort und Schule, herausgegeben von der Amicale des anciens de l'Athénée (AAA); 2001; 480 Seiten, Preis: 24 Euro für Mitglieder, 33 Euro für Nichtmitglieder. Das Buch kann ausschließlich durch die Überweisung der genannten Summe auf das Postscheckkonto Nr. 176100-45 der Vereinigung AAA; 24, boulevard Piertre Dupong; L-1430 Luxemburg erworben werden

 

 

 

Michel Raus
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