In der Nato wächst der politische Druck zum Aufrüsten.
Luxemburg will mitgehen. Aber nicht zu weit

„Das ist kein Minimum“

d'Lëtzebuerger Land du 10.06.2022

Am 28. und 29. Juni treffen sich in Madrid die Staats- und Regierungschefs der 30 Nato-Länder zu ihrem turnusgemäßen Gipfel. Nächste Woche kommen in Brüssel die Verteidigungsminister zusammen. Sie handeln aus, was die Chefrunde zwei Wochen später beschließen wird.

Dass in der Ukraine noch immer Krieg herrscht, wird den Gipfel natürlich prägen. Verabschiedet werden soll in Madrid vor allem eine neue Nato-Strategie für die nächsten zehn Jahre. Zugenommen hat aber auch der politische Druck zur Aufrüstung. Spätestens seit Deutschland erklärt hat, jedes Jahr mehr als zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigungszwecke ausgeben zu wollen, sind die „zwei Prozent“ in den Fokus gelangt. 2014 hatte der Nato-Gipfel in Wales abgemacht, bis 2024 sollten alle diesem Ziel „entgegenstreben“. Damals war das auch eine Reaktion auf die russische Annexion der Krim. Heute ist der Kontext gravierender. Am Montag vergangener Woche verabschiedete die Parlamentarische Versammlung der Nato auf ihrem Frühjahrstreffen in Vilnius einstimmig eine Erklärung zur „Russischen Bedrohung“. Darin „drängt“ sie die Gipfelteilnehmer von Madrid unter anderem, die Ziele von Wales „voll“ zu erfüllen und sie auf längere Sicht zum „Minimum“ zu erklären. Der beim Parlamentariertreffen anwesende stellvertretende Nato-Generalsekretär Mircea Geoana stimmte zu: Die zwei Prozent seien „a baseline. Not a ceiling“.

Wäre das so klar, müsste Luxemburg seine Verteidigungsausgaben in kurzer Zeit vervierfachen. 464 Millionen Euro stehen im Staatshaushalt 2022. Das entspricht 0,6 Prozent des BIP von 2021. 2024 sollen 0,72 BIP-Prozent erreicht sein, an die 558 Millionen Euro. Dafür hat Verteidigungsminister François Bausch (Grüne) planen lassen. Zurzeit lässt er für die Jahre ab 2025 planen. Auf einer Pressekonferenz Ende März machte er klar, dass es dabei nicht um zwei BIP-Prozent gehe. Denn das wären – „da falt Der vum Stull“ – nach Zahlen von 2021 „jedes Jahr mehr als 1,7 Milliarden Euro“.

Dem Land lässt Bausch auf Anfrage durch seinen Pressesprecher Michael Schuster ausrichten, für ihn seien die zwei BIP-Prozent Verteidigungsausgaben nach wie vor ein Nato-Richtziel und „keine Baseline“. Beim Ministertreffen kommende Woche werde er sich dafür einsetzen, dass diese Auffassung geteilt wird. Ohne zusätzliche Engagements Luxemburgs nach Brüssel reisen wird Bausch aber nicht. Premier Xavier Bettel (DP) soll in Madrid nicht mit leeren Händen dastehen. Denn es lässt sich ja nicht leugnen: Laut Nato-Jahresbericht 2021 war Luxemburg in jenem Jahr mit 0,57-prozentigem BIP-Äquivalent Schlusslicht im Nato-Vergleich der Ausgaben. Spitzenreiter war Griechenland (3,82%) noch vor den USA (3,52%). Dabei hätte die noch von den Nachwirkungen der Euro-Krise betroffene hellenische Republik wahrscheinlich zumindest für einen Teil ihrer 6,5 Milliarden Euro Verteidigungsausgaben noch andere Verwendungen gehabt. Und wenn in einem Bündnis alle gleich sind, wirtschaftlich schwächere Länder relativ viel ausgeben, wirtschaftlich starke hingegen relativ wenig, dann sieht das nicht gerade fair aus.

Deshalb prüft die Verteidigungs-Direktion im Außenministerium Szenarien für eine „substanzielle“ Steigerung der Verteidigungsausgaben. Was das konkret heißen soll, teilt François Bauschs Sprecher nicht mit. Nur, dass damit „auch in nächster Zeit nicht zwei Prozent des BIP erreicht“ würden. Was der Minister mit denselben Argumenten begründe wie im März auf seiner Pressekonferenz: Wegen seines hohen BIP gebe es für zwei Prozent Verteidigungsausgaben Luxemburgs gar keine sinnvollen Projekte. Und im Pro-Kopf-Vergleich geriete Luxemburg damit womöglich an die Spitze der Nato. Diese Schätzung trifft vermutlich zu: Laut Nato-Statistik gab Luxemburg 2021 pro Kopf mit 594 US-Dollar mehr für Verteidigung aus als Belgien (458), Italien (476) oder Polen (357). In den USA waren es 2 187 Dollar. Vervierfachte Luxemburg seine Ausgaben von 2021, läge es per capita vor der Weltmacht Amerika.

In welchem Umfang die Ausgaben steigen sollen, dürfte spätestens in zwei Wochen öffentlich werden. Ehe der Premier nach Madrid reist, will François Bausch am 24. Juni den parlamentarischen Verteidigungsausschuss informieren. Auch darüber, wofür das zusätzliche Geld ausgegeben werden soll.

Denn ein noch größeres Problem als in der Bereitstellung von Mitteln besteht im Finden sinnvoller Projekte. Deshalb hat Bausch seit seinem Amtsantritt mit vielleicht noch mehr Konsequenz als sein LSAP-Vorgänger Etienne Schneider in Bereiche investieren lassen, die neu in der Nato sind: In „Cyber“ und „Space“, die seit 2016 beziehungsweise 2019 zwei „Pfeiler“ für sich sind. Dass viel Geld in die Ausrüstung der Armee fließt, hat Luxemburg auf Platz zwei im Nato-Vergleich in diesem Punkt gebracht. Auch lässt Bausch Geld gerne dort ausgeben, wo es nach Innovationen aussieht, denn das schafft extra Sichtbarkeit. Am 25. Mai etwa wurde eine Absichtserklärung unterzeichnet, laut der Luxemburg fünf Millionen Euro zur „Alliance Future Surveillance and Control“ beisteuern wird. Es dabei um militärische Hightech-Forschung zum Ersatz der Awacs-Aufklärungsflugzeuge der Nato.

Vermutlich wird, was François Bausch nächste Woche in Brüssel an Ausgaben für die Jahre ab 2025 anbieten wird, mit Vorhaben zu tun haben wie dem belgisch-luxemburgischen Aufklärungsbataillon. Es soll 2028 einsatzfähig sein, fiele damit in den neuen Planungszeitraum nach 2024 und ist für die Verteidigungsdirektion überaus prioritär. Ein Problem ist freilich, dass sich noch nicht absehen lässt, ob die Armee bis dahin über das dafür nötige zusätzliche Personal verfügen wird (d’Land, 13.05.2022). Aufrüsten zu wollen und es zu können, sind zwei zum Teil sehr verschiedene Dinge hierzulande. Aber das muss man der Nato heute noch nicht erzählen.

Schneller vielleicht als der Minister mit seinen Planern würde die CSV-Fraktion die Verteidigungsausgaben erhöhen. Ihr außenpolitischer Sprecher Claude Wiseler hatte schon Anfang März im Parlament erklärt, Ausgaben von einem BIP-Prozent ließen sich „finanzieren und auch umsetzen“. Nötig sei außerdem „eine Debatte über die Ausrichtung der Armee“. Diese Woche darauf angesprochen, meinte er, „ein Prozent ist eine Richtung“, lasse sich nach Ansicht der CSV in fünf bis sechs Jahren erreichen. Längerfristig müssten es zwei Prozent sein. „Es geht um Luxemburgs Glaubwürdigkeit.“

Ganz gut platziert ist die CSV nicht, um es verteidigungspolitisch besser zu wissen. Als sie die Minister stellte, lagen die Ausgaben bei zuletzt 0,39 BIP-Prozent (zwischen 2009 und 2013). Doch damals war der weltpolitische Kontext noch ein anderer. Viel höher, relativ zur Wirtschaftleistung, waren die Ausgaben mit über drei BIP-Prozent in den Fünfzigerjahren. Doch damals war der Kontext ebenfalls ein anderer, die Armee auch, und es galt noch Wehrpflicht. Weniger reich war das Großherzogtum ebenfalls. In welche Art von Projekten die CSV heute investieren würde, kann Wiseler nicht sagen. „Die Opposition kann keine Militärausgaben planen.“ Sinnvolle Bereiche seien in den Verteidigungs-Leitlinien von 2017 beschrieben. Dass François Bausch im März erklärt hat, zwei BIP-Prozent hieße zum Beispiel, eine F-35-Kampffliegerflotte anzuschaffen, findet Wiseler „daneben“.

Was für die Verteidigungsdirektion nicht in Frage kommt, ist Transfer von Geld an weniger wohlhabende Nato-Staaten, um die „Anstrengungen“ im Bündnis auch auf diese Weise zu teilen. Schon heute werde in Projekte in anderen Staaten investiert und Luxemburg sei „an Verteidigungs-Kooperationen beteiligt“. Transaktionen, um den effort de la défense „künstlich zu erhöhen“, seien nicht vorgesehen.

Was das angeht, stimmt die grüne Abgeordnete Stéphanie Empain ihrem Parteikollegen Bausch zu: „Ich wäre nicht dafür, hunderte Millionen auszugeben, um sich freizukaufen.“ Die Präsidentin des parlamentarischen Verteidigungsausschusses weiß vermutlich, dass das nicht ohne Risiko wäre: Es könnte in anderen Nato-Staaten als Versuch aufgefasst werden, sich der Lastenteilung im Ernstfall zu entziehen. Gerade vor dem Hintergrund eines latenten Krieges sähe das nicht gut aus.

Peter Feist
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