Türkische Kommunalwahlen

Erdogans erste Niederlage

d'Lëtzebuerger Land vom 05.04.2019

Am Wochenende sahen die Türken zum ersten Mal, dass es möglich ist, die seit 2002 regierende Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan an der Wahlurne zu besiegen. Es waren allerdings nur die Kommunalwahlen. Die Regierung ist weiterhin in den Händen der Erdogan-Partei und bekämpft nun mit allen Mitteln das Wahlergebnis.

Die Wahl hatte wichtige Änderungen gebracht. In fast allen Großstädten des Landes eroberten die Kandidaten der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) die Rathäuser. Aber vor allem die Ergebnisse in der 15-Millionen-Metropole Istanbul und in der Hauptstadt Ankara hatten Symbolcharakter. Denn Erdogans Durchmarsch zur Macht hatte 1994 in Istanbul mit einer Kommunalwahl angefangen. Deshalb kämpft wohl die AKP nun hartnäckig, um das Ergebnis vor allem in Istanbul doch noch umzudrehen.

Istanbul und Ankara, aber auch Tourismusstädte wie Antalya oder Mersin, hatten bisher im undurchsichtigen Netzwerk der Korruption im Erdogan-Regime eine große Rolle gespielt. Die Budgets der beiden Metropolen sind größer als sieben Ministerien zusammen. Nun sitzen oppositionelle Politiker von der Republikanischen Volkspartei (CHP) an den Geldhähnen. Ohne dieses Instrumentarium wird Erdogan es schwer haben, seine eigenen Reihen beisammen zu halten. Stattdessen muss er nun befürchten, dass sein Netzwerk der Korruption für jeden Bürger sichtbar ans Tageslicht kommt.

Erdogan hat am Sonntagabend die Niederlage in den Metropolen zunächst indirekt anerkannt. Doch dann war offensichtlich der Druck seines Klientels so groß, dass seit zwei Tagen in Istanbul die Stimmen nachgezählt werden. Dass sich am Ende das Resultat ändert, glauben wenige. Aber es ist Erdogan-Land. Niemand kann davon ausgehen, dass nicht letztendlich der Unrechtsstaat wieder eingreift – diesmal um die AKP vor der Wahlniederlage zu retten.

Parallel versucht Erdogan, das Ergebnis in seinem Sinne zu interpretieren. Seine Partei habe keine Stimmen verloren, behauptet er. Doch das stimmt nicht. Ihre Stimmen sind zwar auf dem Papier sogar minimal gestiegen. Dennoch weiß jeder, dass das mit dem Bündnis mit der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) zusammenhängt. In vielen Provinzen verzichteten beide Parteien gegenseitig auf eigene Kandidaturen zugunsten des anderen. Zählt man die Stimmen beider Parteien jedoch zusammen, kommen sie landesweit auf etwa 52 Prozent. Ein Ergebnis, das die AKP in ihren guten Zeiten ganz allein erzielte.

Auch in den kurdischen Landesteilen, worauf Erdogan sein Augenmerk richtete, verlor er. Die links-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) eroberte dort die Rathäuser durch Wählerstimmen zurück, die Erdogan ihr vor einigen Jahren mit Erlässen aus den Händen riss. Die Verhaftung von tausenden Politikern und Aktivisten der HDP, die starke Einschränkung ihrer politischen Tätigkeit und die Kriminalisierung der Partei nutzten nichts. Eine schwere Niederlage für den selbstherrlichen Autokraten.

Gleich nach der Wahl kündigte Erdogan Veränderungen für die Zukunft an, ohne sie deutlich zu benennen. Beobachter glauben, dass er mehrere Minister entlassen werde. Denn viele in seiner Partei denken, die Minister, viele von ihnen keine Parteimitglieder, seien der Bevölkerung fremd. Erdogan geht es aber im Moment vor allem darum, die Demoralisierung in den eigenen Reihen zu bekämpfen. Er versucht, die AKP-Mitglieder beruhigen. Er sei auch weiterhin der Präsident und es gebe in den nächsten viereinhalb Jahren keine Wahlen mehr. Da werde man sehen, ob die AKP oder die Opposition das Land führen könne. Das klingt wie eine Drohung.

Tatsächlich ist sich auch die Opposition sehr wohl bewusst, wie schwer es sein wird, die gewonnenen Rathäuser zu führen. Denn sie sind alle tief in der Schuldenfalle verfangen. Außerdem hat Erdogan in den Monaten vor den Wahlen die Regeln für die Finanzierung der Rathäuser geändert. Ohne seine Zustimmung fließt keine einzige Lira in die Kassen der kommunalen Verwaltungen. Wie er damit die CHP an erfolgreicher Kommunalarbeit hindern kann, zeigte er am Beispiel Izmir. Die Großstadt an der Westküste wählte nie die AKP. Also verhinderte Erdogan die Finanzierung der Projekte der Stadt und bestrafte somit die Bevölkerung. Für den U-Bahn-Bau bekam Izmir beispielsweise lediglich 30 000 Türkische Lira zugesprochen – knapp 5 000 Euro also.

Dass das Ergebnis trotzdem wie ein Misstrauensvotum gegen Erdogan empfunden wird, liegt an ihm selber. Denn er führte einen aggressiven Wahlkampf, um am Ende zu beweisen, dass die Bevölkerung auch nach der schweren Wirtschaftskrise im vergangenen Sommer hinter Erdogan stehe. Viele Oppositionsveranstaltungen wurden verboten, die Medien berichteten fast ausschließlich über Erdogan, und er selber drohte Kandidaten der Opposition entweder mit Gerichtsprozessen oder administrativen Schlägen, falls sie gewählt werden würden.

Er und sein Koalitionspartner Devlet Bahceli, Chef der faschistischen MHP, behaupteten, es gehe um „das nationale Überleben“. Diesmal hat es nicht gereicht. Die Wähler, die seit Monaten unter 25 Prozent Inflation und zehn Prozent Arbeitslosigkeit leiden, straften den Autokraten trotzdem ab. Dennoch macht das Wahlergebnis keine große Hoffnung für die Zukunft. Denn Erdogan wird seine bisherige Politik höchstwahrscheinlich weiterführen. Da er nur mit Hilfe Bahcelis und der Faschisten an der Macht bleibt, wird er den Ton vermutlich sogar verschärfen.

Cem Sey
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