Seit den letzten Umfragen befinden sich Sven Clement und seine Piraten im Aufwind. Porträt eines noch jungen Politikers, dem nach oben (fast) keine Grenzen gesetzt sind

Habermas Gibéryen

d'Lëtzebuerger Land du 06.08.2021

Platz sieben „Wat Iech, ouni dass der Iech opdrängt a breet maacht, an de Mëttelpunkt stellt, dat ass är Sprooch, déi jiddereen versteet“, schreibt (der Mykologe) Ben Schultheis aus Abweiler in einer am Mittwoch als Leserbrief im Wort veröffentlichten Huldigung an den 32-jährigen Politiker Sven Clement. Im letzten Politmonitor von Wort und RTL konnte der Piraten-Abgeordnete seine Sympathie- und Kompetenzwerte gegenüber November 2020 um elf Prozent steigern und rückte von Platz 13 auf Platz sieben vor. Vor einem Jahr gehörte Platz sieben noch Gast Gibéryen von der ADR. Dessen Abschied aus der Abgeordnetenkammer hatte ein tiefes Loch in die Luxemburger Politiklandschaft gerissen. Mit Sven Clement scheint nun ein legitimer Nachfolger gefunden zu sein. Wie Gibéryen haftet Clement das Image an, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und den Décken aus den großen Parteien auch mal die Meinung zu geigen, ohne aber ein Umstürzler zu sein oder das gesellschaftliche System revolutionieren zu wollen. So wie er es beispielsweise vor drei Wochen tat, als er Familienministerin Corinne Cahen (DP) nach den Diskussionen zum zweiten Waringo-Bericht „Trumpismus“ vorwarf. Der in dem Leserbrief ebenfalls kolportierte Mythos, Clement habe quasi aus dem Stand den Aufstieg in die „Top 10 vun der Lëtzebuerger Politik“ geschafft, stimmt indes nicht.

Sven Clement plant und werkelt seit über zehn Jahren an seiner politischen Karriere. Im Oktober 2018 schaffte er an der Seite von Marc Goergen erstmals den Sprung ins Parlament. Goergen steht beim willkürlich zusammengesetzten Politmonitor nicht zur Auswahl, obwohl er seit 2017 Mitglied des Petinger Gemeinderats ist und die Piraten 2018 im Süden etwas besser abschnitten als in Clements Zentrumsbezirk. Doch im Süden wurde der Sitzgewinn als Mannschaftsleistung gedeutet. Sven Clements Aufstieg gilt hingegen als sein eigenes Verdienst. Das Publikum liebt die Einzelkämpfer aus einfachen Verhältnissen, die auf dem Weg nach oben jedwedem Widerstand trotzen und den Mächtigen den Spiegel vorhalten.

Dabei begann das Leben des Sven Clement denkbar unheroisch. Aufgewachsen ist er in einer Luxemburger Mittelschichtfamilie im suburbanen Beggen. Beide Eltern waren Bankangestellte. Einmal hat ihm sein Vater einen 200 000 Franken teuren Laptop gekauft. Als der junge Sven das Betriebssystem neu installieren wollte, unterlief ihm ein Fehler und er dachte, der Rechner sei kaputt. Zum Glück konnte er den Fehler noch im letzten Moment beheben, nur wenige Sekunden bevor sein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Vermutlich sei es in der Realität ganz anders abgelaufen, doch in seiner Erinnerung habe die Geschichte sich genauso abgespielt, erzählt Sven Clement im Gespräch mit dem Land.

Drei Jahre bevor er 2008 sein Abitur in Mathematik am Lycée Aline Mayrisch abschloss, hatten sich seine Eltern getrennt. Seine Mutter ging zurück zur Uni, um eine Lehrerinnenausbildung zu beginnen. Als Alleinerziehende mit drei Kindern habe sie es nicht leicht gehabt. In der Zeit habe er gelernt, was Armut bedeutet. Nach dem Abitur begann er ein Studium der Wirtschaftsinformatik in Saarbrücken. Seinen Bachelor schloss er in der Regelstudienzeit ab. 2011 ging er in die Hochschulpolitik und wurde Vize- und Ko-Vorsitzender des Allgemeinen Studierendenausschusses (Asta) der Uni Saarbrücken. Zu der Zeit war er bereits Präsident der Luxemburger Piraten-Franchise.

Sozialisten Noch als Schüler war er in Luxemburg den Jungsozialisten beigetreten. Das Vertrauen in die LSAP habe er nach den Nationalwahlen von 2009 verloren, erzählt Clement. Die Sozialisten hätten damals eine Schlappe erlitten, doch Jean Asselborn habe noch am Wahlabend verkündet, die CSV-LSAP-Koalition sei bestätigt worden. Dieser Satz von Asselborn habe seine politische Karriere geprägt, erinnert er sich. In Wahrheit verlor die LSAP 2009 nicht einmal zwei Prozent und fiel trotzdem von 14 auf 13 Mandate. Die DP fiel von zehn auf neun, die ADR von fünf auf vier, die Grünen blieben bei sieben Sitzen. Nur die CSV gewann und déi Lénk zog erstmals ins Parlament ein. Sollte Asselborn am Wahlabend tatsächlich gesagt haben, die Koalition sei bestätigt worden, hatte er damit wohl gar nicht so Unrecht.

Die Suche nach einer neuen politischen Heimat gestaltete sich für den von den Sozialisten enttäuschten Clement schwierig. Die CSV war ihm zu katholisch, die DP zu wirtschaftsliberal, die Grünen zu dogmatisch, ADR und Linke kamen überhaupt nicht in Frage. Bei einer Recherche im Internet stieß er auf ein Forum, in dem einige Leute aus Luxemburg gerade darüber redeten, eine neue Partei zu gründen. 14 von ihnen kamen zum ersten Treffen, „zufällig“ war an dem Tag auch eine deutsche Delegation der Piraten nach Luxemburg gereist. Der Rest ist Geschichte. Die Rollenverteilung sei schnell klar gewesen, sagt der Jurist Jerry Weyer. Die „Rampensau“ Sven Clement wurde Präsident, der eher schüchterne Weyer Vizepräsident. Seitdem sind die beiden unzertrennlich.

Die Kammerwahlen 2013 und Europawahlen 2014 verliefen für die Piraten erfolglos. Doch Sven Clement hatte Höhenluft geschnuppert. Nachdem er zwei Wahlkampagnen geleitet und mit Jean-Claude Juncker an einer Table ronde gesessen habe, sei es für ihn nicht mehr vorstellbar gewesen, zur Uni zurückzukehren, um sein Masterstudium zu beenden und sich „wieder ganz unten in der Hierarchie“ einzuordnen. Im Juni 2014 gründete er zusammen mit Jerry Weyer die Firma Clement & Weyer Consulting sàrl. Am Anfang beschränkte sich ihr Angebot darauf, Firmen bei ihren Auftritten in den sozialen Netzwerken zu beraten. Heute gehören auch digitales Marketing und die Entwicklung von Webseiten und Apps dazu. Acht Beschäftigte und vier Full-Time-Entwickler sind inzwischen Teil des Teams. „Mit den sechs Mitarbeitern in der Fraktion komme ich auf 18 Angestellte, die mir operativ unterstehen“, berichtet der Jungunternehmer stolz.

Auf dem Parteikongress 2015 kam es erstmals zu einem internen Machtkampf bei den Piraten. Mitglieder des Nordbezirks wollten den Vizepräsidenten Marc Goergen stürzen und ihn durch Sven Wohl ersetzen. Am Ende konnte Goergen sich durchsetzen. Erst verließen Wohl und der heute bei den Grünen engagierte Claude Feltgen die Partei, nach den Kammerwahlen 2018 dann auch der Ex-Adrenaliner Andy Maar. Diese drei hatten den Nordbezirk seit 2011 mit aufgebaut und fühlten sich von Sven Clement im Stich gelassen. Manchmal müsse man eben Kompromisse eingehen, um in der Politik weiterzukommen, rechtfertigt sich Clement heute. Zu den Kompromissen gehörte auch die Zusammenarbeit mit der Partei fir integral Demokratie (PID) des früheren ADR-Abgeordneten Jean Colombera.

Moien Im Juni 2017 gründete Clements Ehefrau Christine Nehrenhausen mit Sarah Mignani, frühere Direktionsassistentin von Corinne Cahen bei Chaussures Léon und damals Executive Assistant bei Clement & Weyer, die Newsplattform Moien.lu. Chefredakteur wurde der gescheiterte Putschist Sven Wohl, der schon journalistische Erfahrung beim Lëtzebuerger Journal gesammelt hatte. Laut Clement habe man eine luxemburgischsprachige Nachrichtenseite schaffen wollen, die gut recherchierte Artikel veröffentlicht. Schließlich sei Christoph Bumb ihm mit Reporter.lu zuvorgekommen, sagt Clement. Nachdem er in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde, zogen Mignani und Nehrenhausen sich aus dem operativen Geschäft der Plattform zurück, die vom Telekommunikationsdienstleister Mixvoip SA übernommen wurde. Wohl ging zurück zum Journal und der frühere Zeitung- und Tageblatt-Mitarbeiter Patrick Kleeblatt stieg mit ein. Laut der Mediengruppe halten sowohl Nehrenhausen als auch Clement & Weyer Consulting noch Anteile an der bislang nicht sonderlich rentablen Moien News Media SA, die erst Anfang dieses Jahres mit dem Herausgeber von werbefinanzierten Sportmagazinen, Mental Media sàrl., fusionierte.

Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2017 zog Marc Goergen mit Starsky Flor in den Petinger Gemeinderat ein. In Remich konnte der Immobilienmakler, Tierschützer und früheres PID-Mitglied Daniel Frères mit tatkräftiger Unterstützung des Lux-Privat-Herausgebers Jean Nicolas einen Sitz erringen. Sven Clement erlitt seinen ersten und bislang einzigen politischen Rückschlag: In der Stadt Luxemburg kamen die Piraten mit ihm als Spitzenkandidaten nur auf 2,6 Prozent.

Doch das eigentliche Ziel der Piraten waren nicht die Gemeindewahlen, sondern der Einzug ins Parlament. Obwohl niemand so richtig mit ihnen gerechnet hatte, errangen sie bei den Nationalwahlen 2018 zwei Mandate. Colombera (PID) im Norden und Daniel Frères im Osten verpassten den Kammersitz nur knapp. Der Erfolg der Piraten kam vor allem deshalb überraschend, weil bis heute niemand genau weiß, wofür die Partei eigentlich steht. Für den Groupe technique, den sie nach den Wahlen mit der ADR einging, erntete sie viel Kritik. Inhaltlich punkten konnte Clement seit seinem Amtsantritt vor allem mit seinen Forderungen nach Transparenz, einer Kernkompetenz der Piraten. Seinen größten politischen Erfolg als Abgeordneter errang er im Januar, als der Verwaltungsgerichtshof seinem Einspruch für die Einsicht der Kammer in den Konzessionsvertrag zwischen Staat und RTL stattgab. Auch ein Lobbyregister für Abgeordnete hat er zumindest teilweise durchgesetzt. Ansonsten fielen die Marketing- und Kommunikationsexperten der Piraten innerhalb und außerhalb des Parlaments vor allem durch als faktenbasierte Politik getarnten Populismus auf. Seine rezente Popularität zieht Sven Clement aber aus seinen zahlreichen Auftritten und Beiträgen zu den Covid-Gesetzen. Vielleicht hätte der linke Abgeordnete Marc Baum auch davon profitieren können, wäre er nicht im April aus der Kammer (und damit auch aus dem Politmonitor) rotiert. Oder der Corona-Sprecher der ADR, Jeff Engelen, wäre er im Politmonitor überhaupt aufgeführt.

Sozialliberalismus Kompliziert wird es, wenn Sven Clement die allgemeine politische Ausrichtung seiner Partei erklären muss. Im Gegensatz zu den dogmatischen Grünen und Linken seien die Piraten eher pragmatisch, lösungsorientiert und auf Kompromisse ausgerichtet. Sie seien sozialliberal, aber nicht wie DP und LSAP, sondern zwischen diesen beiden „Extremen“. „Ich sehe das wie Habermas, wie die Begründer des traditionellen Sozialliberalismus“, philosophiert Clement, und meint damit „eine Situation, in der der Staat ein Sicherheitsnetz spannen muss, bei dem die Allgemeinheit für die Allgemeinheit verantwortlich ist“. Der Staat dürfe persönliche Freiheiten nur soweit erlauben, wie sie die persönlichen Freiheiten Anderer nicht einschränken.

Seit den guten Umfragewerten vom Juni befinden sich die Piraten im Höhenflug. Laut Sonndesfro von Wort und RTL würden sie gegenüber 2018 zwar nur 1,4 Prozent, dafür aber zwei Sitze mehr erreichen, wenn jetzt Wahlen wären (zum Vergleich: die Linke gewinnt bei der Umfrage zwei Prozent, aber nur einen Sitz). Clement geht sogar davon aus, dass die Piraten 2023 die Zahl ihrer Mandate (auf sechs Sitze) verdreifachen werden, wie er dem Land verrät. Marc Goergen äußerte schon den Wunsch, Clement müsse die Partei als Spitzenkandidat in den Wahlkampf führen. Insgesamt ist die Personaldecke der Piraten aber dünn, wie sich bei den Redebeiträgen auf dem Parteikongress im Mai zeigte. Als erfahrene Mitglieder gehören dem Präsidium neben Goergen, Clement und Frères noch Camille Liesch (der schon für Grüne, ADR und DP bei Wahlen antrat) und Ex-PID-Frau Marie-Paule Dondelinger an. Alle anderen sind politische Neulinge. Selbst Parteisprecher Starsky Flor, der zwar in den Petinger Gemeinderat gewählt wurde, sein Mandat aber schon kurze Zeit später an den erst 23-jährigen Christian Welter abgab, machte beim Kongress keinen sonderlich souveränen Eindruck. Die Nord-Sektion wurde nach ihrer Auflösung noch nicht wieder neu gegründet, Ende des Jahres solle ein Bezirkskongress stattfinden, sagt der Ehrenpräsident.

Für den stets selbstsicher auftretenden Clement ist es wichtig, dass er Menschen an seiner Seite hat, auf die er sich stützen kann. Auf seinen Sidekick Marc Goergen kann er wohl weiterhin zählen. Das frühere Mitglied der Jungen Demokraten (JDL) ist nicht nur ein Stimmenfänger, er rekrutiert auch neue Talente in seiner Gemeinde. Die Hälfte des Vorstands der Jonk Piraten besteht inzwischen aus Mitgliedern aus dem Raum Petingen, darunter Goergens Frau Vicky Bernard. Auch sein bester Freund Jerry Weyer, der die vergangenen drei Jahre in Südspanien gelebt hat und im Hintergrund viel Arbeit leistet, hält Clement die Treue, selbst wenn er 2018 als Kandidat für die Europawahlen übergangen wurde und seinen Unmut öffentlich kundtat. Der Erfolg bei den Kammerwahlen habe seine Enttäuschung kompensiert, sagt Weyer dem Land. Nicht zuletzt ist Clements Vater Pascal seit einigen Jahren bei den Piraten aktiv. Aktuell ist er Präsident des Zentrumsbezirks.

Transfergerüchte Die größte Gefahr für Sven Clements Karriere besteht aber wohl darin, dass er 2023 von Marc Goergen und Daniel Frères überholt werden könnte. Flügelkämpfe (etwa zwischen dem Tierschutz- und dem Transparenzflügel) habe es zwar in den vergangenen Jahren durchaus gegeben, doch Behauptungen, denen zufolge er seit dem Austritt vieler Ur-Piraten in der Partei weitgehend isoliert sei, weist Clement zurück. Auch an den rezenten Gerüchten, er werde noch vor den nächsten Wahlen zur DP wechseln, sei nichts dran: „Ich habe zurzeit keine anderen Pläne, als in der Piratenpartei aktiv zu sein“.

Eine politische Vision für 2023 hat er schon. Gekommen ist sie ihm nach einer Bildungsreise nach Kolumbien, die er mit seiner hochschwangeren Ehefrau unternommen hat, und von der er erst am Montag zurückgekehrt ist. Im TGV von Paris nach Luxemburg habe er einen Artikel mit dem Titel „Il nous faut un nouveau siècle des lumières“ gelesen. „Wir haben an sich alle Lektionen, die wir aus dieser Zeit von einem intellektuellen politischen Diskurs gezogen haben, wieder verlernt und fallen in relativ dogmatische Glaubenskämpfe zurück. Und ich bin der Meinung, dass wir anstatt von Glaubenskämpfen einen ehrlichen Austausch von Ideen brauchen. Das ist der Grund, weswegen ich jeden Tag aufstehe und diesen Scheiß hier mache“, sagt Sven Clement.

Luc Laboulle
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