Europapolitiker

Noch ein Märchen

d'Lëtzebuerger Land du 16.03.2012

Heute loben wir die verborgenen Qualitäten der Europapolitiker. Am 27. März ist Jean-Claude Juncker nach Brüssel eingeladen, zu einer gemeinsamen Debatte mit Dominique Strauss-Kahn im Europäischen Parlament. Mittels wüster Gerüchte wird dieses Wiedersehen zweier Freunde schon im voraus torpediert. Wie wir aus durch und durch giftigen Quellen erfahren, soll Strauss-Kahn bei dieser Gelegenheit seinem preisverwöhnten Freund Juncker den „Grand Prix Callgirl“ überreichen, assistiert von einem veritablen Zuhälter aus dem berüchtigten Carlton-Prostitutionsring. Mit diesem Preis, wird weiter gelästert, soll Juncker ausgezeichnet werden für seine herausragende Toleranz gegenüber gestrauchelten europäischen Spitzenpolitikern. Die Laudatio soll der ungarische Faschist christlicher Faktur Victor Orban halten. Wir glauben von diesen unsäglichen Verleumdungen kein Wort. Dieses schlimme Gestänker stammt sicher von Leuten, denen es nie gelungen ist, zu europäischen Spitzenpolitikern aufzusteigen.

Wir sind zum Glück in der Lage, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Es geht bei diesem Brüsseler Gipfel um nichts anderes als Spatzen. Das klingt höchst verwunderlich, entspricht aber vollends der Realität. Zunächst der Hintergrund. Im kommenden Mai wird Jean-Claude Juncker der wohl wichtigste Preis seiner politischen Karriere überreicht: der vom Vogelschutzverein Mamer/Capellen gestiftete „Goldene Spatz“. Mit dieser bedeutenden Trophäe wird der Premier geehrt für seine herausragenden Verdienste um die gesamteuropäische Ornithologie. Die Spatzen sind eine bedrohte Art, das ist mittlerweile jedem klar. Doch nur die wenigsten wissen, dass Juncker zu den Spatzen ein durch und durch konstruktives Verhältnis pflegt. Ganz im Sinne der europäischen Integration.

Wiederholt haben Vorstandsmitglieder des Vogelschutzvereins Mamer/Capellen Juncker dabei beobachtet, wie er mit verklärtem Blick in seinem Vorgarten stand und voller Mitgefühl das friedliche Geflatter der Spatzen in den Hecken und auf den Bäumen genoss. Wo andere reflexartig in die Hände klatschen, um das gefiederte Völkchen abzuschrecken, oder gar die Vögel heftigst beschimpfen oder zur Flinte greifen oder Gift streuen, hat Juncker stets nur eine ausgeprägte Sympathie gezeigt. Nie hat er auch nur einen einzigen Spatzen gefragt, ob er nicht zufällig ein frontalier sei, also ein Zugeflogener, der ungeniert in heimischen Sträuchern wildert. Nie hat er sich erkundigt, ob sich im Vogelschwarm nicht zufällig Exemplare versteckten, die im Petinger Sprachgebrauch „Zigeunerspatzen“ heißen. Alle Spatzen ohne Ausnahme waren ihm willkommen, was seine fundamental europäische Einstellung unterstreicht.

Daraus können wir folgern: unter dem Pflaster liegt der Strand, unter der harten Schale des Politikers steckt eine zarte Seele, die wir leider oft gar nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Der „Goldene Spatz“-Preis ist insofern ein wichtiger Hinweis auf die tiefere Dimension des Politikers. Wir sollten öfter fragen, wie Politiker zu Spatzen stehen. Dann vergeht uns das Kritisieren von selbst.

Und nun zu Strauss-Kahn. Sagen wir es sofort: die Brüsseler Veranstaltung ist nichts weiter als ein Treffen von Gleichgesinnten. Zwei prominente Spatzenfreunde geben sich die Ehre. Denn was die wenigsten wissen: auch Strauss-Kahn ist ein großer Förderer der Spatzen. Sogar im New Yorker Sofitel-Hotel hat er sich übereinstimmenden Berichten zufolge liebevoll der Spatzenschar auf dem Dach zugewandt. Er soll sogar ein Zimmermädchen aufgefordert haben, beim Staubsaugen doch bitte nicht so viel Lärm zu machen, um die Spatzen nicht von der Fensterbank zu vertreiben. Mehrmals wurde er dabei beobachtet, wie er mit gütigen Blicken das muntere Treiben der amerikanischen Spatzen verfolgte. Noch nie hat Strauss-Kahn einem Spatzen ein Haar gekrümmt. Im Polizeikommissariat von Lille, wo er vor kurzem zwei Tage lang verhört wurde, soll er sogar inständig darum gebeten haben, doch bitte alle Fenster weit zu öffnen, damit er sich am erquickenden Gezwitscher der französischen Spatzen laben könne. Gewiss wird es ihn freuen, dass sein Freund Juncker mit dem „Goldenen Spatzen“ geehrt wird. Mehr Seelenverwandtschaft kann man sich unter Koryphäen der Vogelwelt nicht wünschen.

In Brüssel werden Juncker und Strauss-Kahn über „Leçons de la crise économique mondiale, l’Europe à la croisée des chemins“ debattieren. Wir möchten fast wetten, dass sie dabei auf die Spatzenmetaphorik zurückgreifen werden. Denn die Spatzen leben uns ja vor, wie man erfolgreich Krisen vermeiden kann. Sie spekulieren nicht, sie machen keine Schulden, sie schlagen nicht über die Stränge und lassen sich ihre Nester nicht von obskuren Kreditjongleuren finanzieren. Vielleicht ist die ausgeprägte Spatzenfreundlichkeit von Juncker und Strauss-Kahn auf die Faszination dieser einfachen und wirksamen Lebensweise zurückzuführen. Der gemeinsame Brüsseler Auftritt verspricht also, lehrreich und spannend zu werden. Das pfeifen die Spatzen von den Dächern.

Guy Rewenig
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