LEITARTIKEL

Life-Life-Balance

d'Lëtzebuerger Land du 14.04.2023

„D’Loscht ass do, d’Energie ass do, d’Motivatioun ass do“ – antwortete Xavier Bettel am vergangenen Freitag auf Nachfrage von RTL-Télé, ob er eine dritte Amtszeit ansteuert. Er sagte aber auch: „Ech gi net Premier, fir Premier ze bleiwen.“ Die Parteiprogramme der Koalitionspartner müssten zu den politischen Vorstellungen der DP passen. Er könne keine Koalition eingehen, „bei der es darum geht, das Land an die Wand zu fahren“. Dabei denke er an die 35-Stunden-Woche, die die LSAP in die Diskussion einbringt. Die Sozialisten kochen seit letztem Frühling ihr Wahlversprechen auf Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich wieder auf. Arbeitsminister Georges Engel kündigte eine Studie an, „um die Debatte zu objektivieren“; ihr Ergebnis wurde noch nicht veröffentlicht.

Zu Beginn dieses Jahres brachte der Psychiater Robert Waldinger erneut Ergebnisse zu einer seit 85 Jahren laufenden Studie heraus, an der mittlerweile 2 000 Personen teilgenommen haben. Sie zeigt, dass neben der Anzahl an Arbeitsstunden noch weitere Baustellen existieren, wie derjenigen des Wohlbefindens am Arbeitsplatz. Die häufig bemühte Work-Life-Balance-Dichotomie sei irreleitend: Wie ein Mensch seine Zeit am Arbeitsplatz verbringt, beeinflusst die Qualität seiner Freizeit und umgekehrt. Und obwohl Gene die Grundlage unserer Persönlichkeit bilden, prägt uns ebenfalls unser Umfeld, unser soziales Netz und die Erfahrungen, die wir machen. Dass das Arbeitsumfeld dabei massiv reinfunkt, kann diese Zahl verdeutlichen: Ein europäischer Bürger hat mit 80 Jahren immer noch mindestens zehn Mal mehr Zeit an seinem Arbeitsplatz verbracht als mit seinen Freunden oder Zweieraktivitäten mit seinem Lebensgefährten.

Die meisten unzufriedenen Mitarbeiter sind laut Robert Waldinger in Berufen anzutreffen, in denen sie stark isoliert sind. Hierunter fallen Lastwagenfahrer und Nachtwächter sowie Plattform-Arbeiterinnen, die Pakete und Essen ausliefern und rechtlich betrachtet keine Kolleginnen haben. Callcenter-Jobs, in denen zwar viele soziale Interaktionen anstehen, jedoch ein stumpfsinniger Austausch mit einem gereizten Gegenüber stattfindet, fallen ebenso in diese Kategorie. In einem Arbeitsdokument der Europäischen Kommission wurden neben dem sozialen Klima weitere Minuspunkte festgehalten: die Über- und Unterforderung am Arbeitsplatz, Zeitdruck, unklare Anweisungen, wenig Gestaltungsmöglichkeiten trotz hoher Verantwortung, unsicheres Anstellungsverhältnis sowie kein Bezug zu den zu erledigenden Aufgaben.

Von den Isolierten, Über- und Unterforderten bereiten Soziologen und Gewerkschaften insbesondere die Paketzusteller und Turbo-Lieferanten Sorgen. Diese Gruppe macht in Europa schätzungsweise 28 Millionen Menschen aus, in Luxemburg etwa 2 500. An ihren Arbeitsplätzen können sich die von Algorithmen geleiteten Lieferanten nicht als Mitbestimmende erleben und proto-demokratisch engagieren – in Zeiten von populistischer Stimmungsmache ein gewichtiges politisches Defizit. Das Digital-Präkariat ist per App mit seiner Firma verbunden; die Nachrichten, die sie erhalten, sind jedoch selten namentlich gezeichnet. Die Plattform WeDely lotete in Luxemburg die Grenze zur Illegalität aus und arbeitete mit Scheinselbstständigen, die dazu angehalten wurden, sich selber bei der Sozialversicherung und Steuerverwaltung anzumelden. Das Tageblatt berichtete in einem Gespräch mit einem Lieferanten, dass das vielen zu teuer sei und Personen ohne Niederlassungsgenehmigung diese administrative Hürden ohnehin vermeiden. Weil im Arbeitsrecht viele Grauzonen bei der Scheinselbständigkeit bestehen, will unter anderem EU-Kommissar Nicolas Schmit (LSAP) das Modell der Plattform-Firmen regulieren. Dem stellen sich Länder wie Tschechien entgegen, – die Algorithmus-Firmen bräuchten „Flexibilität“. In der hiesigen Debatte zur Arbeitszeitverkürzung bemüht Xavier Bettel ebenfalls das Buzzword „Flexibilität“, ohne zu erläutern, unter welchen Bedingungen die Arbeitszeitflexibilisierung das Berufsleben verbessern soll. Demgegenüber klingt die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche zunächst handfester.

Stéphanie Majerus
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