Migrant/innen in Luxemburg am Anfang des 20. Jahrhunderts

„Indésirables“ aus Übersee

d'Lëtzebuerger Land du 14.04.2023

Bei der Durchsicht der Dokumente der Fremdenpolizei zwischen der Jahrhundertwende und den 1940-er Jahren stieß ich auf einige Ausländer/innen, die nicht nur aus Europa kamen, sondern auch aus Afrika, Lateinamerika und Asien. Sofort weckte dies mein Interesse. Es gab also nicht nur Italiener/innen und andere Europäer/innen, die nach Luxemburg einwanderten, sondern auch Menschen aus Übersee. Doch was machten sie hier? Was arbeiteten sie? Warum waren sie hergekommen? Und auf welche Probleme sind sie hier gestoßen?

Die Akten der Fremdenpolizei geben manchmal sehr wenig und manchmal ein bisschen mehr Einblick in das Leben dieser außereuropäischen Migrant/innen. Manchmal beinhalten sie Befragungen, manchmal Briefe von ihren Anwälten, aber immer spiegeln sie die Logik des Staates wider. Die meisten Migrant/innen, die ich fand, werden eines Verstoßes oder Verbrechens bezichtigt, was schließlich auch der Grund für ausgiebigere Information in den Fremdenpolizeiakten ist. Als Historikerin weiß ich, dass diesen Bezichtigungen misstraut werden muss: Ob sie wahr sind, oder nicht, wissen wir ganz einfach nicht. Doch wie die Geschichte der Personen schreiben, dessen Stimmen nicht erhalten geblieben sind?

Um mit diesem Problem der Einseitigkeit der Quellen umzugehen, versuchte ich, sie „gegen den Strich“ zu lesen. Und so entstanden kleine Geschichten, die versuchen eine mögliche Sicht der Migrant/innen darzustellen. Sie basieren einerseits auf den gefundenen Fremdenpolizeiakten, auf anderen Quellen sowie weiterer Recherche zu der Zeit und den möglichen Problematiken, denen außereuropäische Migrant/innen ausgesetzt waren, und natürlich zum Teil auf persönlicher Imagination.

Beginnen wir mit der ersten Geschichte. Sie spielt im Splendide, einem der „Belustigungslokale“ in Luxemburg-Gare, das ziemlich sicher orientalische und andere exotische Shows tanzender Mädchen auf die Bühne stellte.

Performer I – „exotische Damen“: Messauda Judith Sibon (geb. Oran 1890, in Luxemburg 1925)

Ich bin nach Luxemburg gekommen, weil ich hier als Tänzerin engagiert wurde, erst im Varieté Madrid und dann im Splendide. Hier gibt es immer wieder exotische Shows. Ich kann bauchtanzen und den Schleiertanz beherrsche ich auch. Außerdem kann ich singen, was wirklich nicht alle können. Und da ich Algerierin bin, werde ich als „echte Orientalin“ beworben. Die Männer mögen das, in Paris und in Luxemburg. Ich wohne hier nicht schlecht in einem Hotel in der Nähe vom Splendide und mein Verdienst ist recht gut, solange ich Auftritte habe. Nur wenn ich länger nicht engagiert werde, wird es hart.

Gestern bekam ich einen Brief von der Polizei. Da stand drin, ich solle das Land verlassen, weil ich Prostituierte sei und dabei bin ich erst einen Monat hier. „Die künstlerischen Darbietungen, zu denen sie berufen ist, tendieren dazu, die öffentliche Ordnung zu stören“, steht da. Was denken die denn? Da werde ich eingeladen, um meinen Körper herzuzeigen, weil das den Männern gefällt, und dann werde ich gleich wieder ausgewiesen? Als ich das den anderen Mädchen im Splendide erzähle, sagten sie mir, dass das normal sei und Prostitution in Luxemburg verboten ist. Überhaupt das ganze freie Leben, wie ich es aus Paris kenne, sei hier verboten. Aber ich solle mich nicht aufregen, es ginge mir doch gut. Exotische Frauen seien sehr beliebt, vor allem in unserem Business und trotzdem ginge es auch anders… Und dann erzählten sie mir die Geschichte von einer armen Brasilianerin von vor rund 40 Jahren.

Marie Innocenzia Mentz (geboren 1867) wurde von ihrem Onkel mit elf Jahren nach Deutschland gebracht. Dort ließ er sie sitzen und das Mädchen blieb allein in einem Land, das sie nicht kannte. Danach arbeitete sie wohl schon bald als Hausmädchen in Metz. Klar, dass sie recht früh begann, sich Männern anzuvertrauen, die ihr das Leben ein bisschen erleichterten. Denn so lernen wir es doch; ein Mann macht uns schöne Augen, bietet uns für eine gewisse Zeit ein besseres Leben mit Kleidern, Schmuck, Champagner usw., und wir wollen das alles gerne genießen und lassen uns darauf ein. Wie weit wir dafür gehen, ist für jede anders. Und natürlich, die Bewunderung gefällt uns auch! Nur manchmal da gefällt sie uns nicht. Also ich weiß jedenfalls, wie ich damit umgehen soll, wenn mir jemand unerwünschte Avancen macht. Wie zum Beispiel letztens, als einer auf die Bühne gehüpft ist und mich anfassen wollte… Den habe ich gleich wieder von der Bühne holen lassen. Schließlich arbeiten hier auch starke Männer. Für ein junges Mädchen, das in einem Haushalt arbeitet, ist das sicher anders, denn da kommt noch der Druck und das Zusammenleben hinzu, sagen meine Kolleginnen und einige haben auch selbst Erfahrung damit gemacht.

Marie Innocenzia wurde mit 14 schwanger, in der Zeit, in der sie Hausangestellte war. „Illahi! Das arme Mädchen!“, rief ich aus. Irgendwas muss weiter schiefgelaufen sein und mir laufen noch immer kalte Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke. Kurz danach verließ sie ihre Stelle, ging weg aus Metz und versuchte ihr Glück in Esch/Alzette. Dort war sie Kellnerin, wurde aber bald wieder ausgewiesen, denn die Bezeichnung Kellnerin werde in Luxemburg oft benutzt, um ein leichtes Mädchen zu beschreiben, erzählten mir die anderen Tänzerinnen. So ging sie nach Nancy und arbeitete dort zuerst als Dienstmädchen. Mit erreichter Volljährigkeit war sie bereits Mutter eines zweiten Kindes und erwies ihre Liebesdienste nun offiziell. Marie Innocenzia hatte wohl nie viel Geld und manchmal musste sie auch stehlen, um etwas zu Essen zu haben. Darum und wegen Sittenstörung kam sie mehrmals ins Gefängnis. Sie schien nicht besonders vorsichtig gewesen zu sein, denn sie litt immer wieder an venerischen Leiden.

Um die Jahrhundertwende ging sie nochmal – ohne ihre Kinder – nach Esch, in die Arbeiterstadt. Dort würde man weniger elegant leben, wie wir hier in Luxemburg-Stadt, erzählten die Mädchen. Dort arbeitete Marie Innocenzia für einen italienischen Kabarettier, wurde aber bald wieder ausgewiesen, weil sie ein paar Nächte mit einem Mann verbracht hätte… In Paris wäre das kein Problem, damals und auch heute nicht!

Ich denke ich werde nach Paris zurückgehen. Das Leben gibt dort einfach mehr her und hier bin ich wohl nur am Abend erwünscht, denn da führen mich Verehrer aus und ich kann das amüsante Nachtleben des Bahnhofsviertels genießen. Doch untertags muss ich mich vor der Fremdenpolizei in Acht nehmen, vor allem in der Bahnhofsgegend und manchmal sogar in meinem Hotel. Außerdem, wenn ich jetzt gehe und nicht warte, kann ich wahrscheinlich später zumindest auf kurze Zeit unbemerkt für ein paar Shows wiederkommen und das trotz Einreiseverbot…

Eine Odaliske in Luxemburg?

Und tatsächlich kam Sibon noch einmal im Mai 1926 nach Luxemburg, um als Tänzerin aufzutreten.

Unverheirateten Migrant/innen, auch aus Europa, wurde in den 1920-er Jahren häufig unterstellt, Sexarbeiterinnen zu sein, besonders wenn sie als Kellnerinnen, Dienstmädchen oder Tänzerinnen angestellt waren oder in wilder Ehe lebten. Wer von ihnen tatsächlich Sexarbeit verrichtete, lässt sich in den meisten Fällen nicht nachweisen, da Prostitution in Luxemburg verboten war. In Frankreich war sie zwar erlaubt, wurde jedoch willkürlich von der Sittenpolizei kontrolliert und überwacht.1 Marie Innocenzia Mentz war als offizielle Prostituierte in ein Register der Sittenpolizei eingetragen. Ob Sibon neben Tanz auch sexuelle Dienste anbot, oder in eine der Grauzonen fiel und zum Beispiel von einem Freier ausgehalten wurde, wissen wir nicht. Jedoch ist es wahrscheinlich, dass das Splendide Tanzshows und Prostitution verband, da dies bei solchen Etablissements öfters der Fall war und vor allem die Vergnügungsgegend um Luxemburg-Bahnhof, genauso wie Esch/Alzette, immer wieder in zeitgenössischen Diskussionen über Prostitution erwähnt wurde.2

Am Bahnhofsviertel in Luxemburg gab es in den 1920-er und 30-er Jahren ein reges Nachtleben mit Dancings und Varietés, die auch Shows aufführten, die zum Beispiel „die schöne Brasilianerin“ hießen, oder eine „indische Tempelszene mit Feuertanz“, über die außer dem Titel nichts bekannt ist. Über das Splendide gibt es kaum Informationen. Jedoch ist es sehr wahrscheinlich, dass gerade dieses „Belustigungslokal“ exotische Tänze auf die Bühne stellte, da ich drei Frauen aus Übersee fand, die dort als Tänzerinnen auftraten: Neben Sibon, eine Marokkanerin und eine Kongolesin.

Erotische Orientfantasien reichen in Europa zumindest bis ins 18. Jahrhundert zurück. In ihrem Zentrum stand meistens der Harem. Harems waren männlichen, europäischen Reisenden nie zugänglich gewesen und als rein weiblicher Wohnort eine perfekte Projektionsfläche für männliche Sexualfantasien.3 Orientalischer Tanz sowie kostbarer Schmuck, Süßigkeiten und Kleidung spielten dabei eine wichtige Rolle, genauso wie Sinnlichkeit, Laszivität und Nacktheit. Vor allem der Busen wird auf Orientbildern fast immer hervorgehoben. All diese Elemente eignen sich perfekt, um orientalisch-sexualisierte Shows auf die Bühne zu stellen.4

Voraussetzung dieser männlichen Sexualfantasien ist die Vorstellung, dass europäische Männer sich die Frauen wie das Land einfach nehmen könnten. Hier verbinden sich Geschlechter- und eurozentrische Kolonialvorstellungen.⁵ Und natürlich hat bei einer in Paris lebenden Algerierin ihre Migrationsgeschichte auch etwas mit Algerien als französischer Kolonie zu tun. Auch hier wurden erotische Frauenbilder produziert, vor allem in Form von Postkarten. Oft trugen sie den Titel „Types Algeriens“, womit sie versuchten, den erotischen Charakter mit einem ethnographischen zu verbinden. Dies war bei den Shows in Europa wohl anders. Als Darstellerinnen wurden hier vermutlich, wie auf den typischen Odalisken- und Haremsbildern, möglichst europäisch aussehende Frauen ausgesucht und in orientalischer Aufmachung dargestellt.⁶ Schließlich versuchte sich schon um die Jahrhundertwende die Holländerin Margaretha Geertruida Zelle, bekannt als Mata Hari, als Orientalin zu verkaufen. Und auch Sibon passt, dem Foto auf ihrer Anmeldeerklärung nach zu urteilen, in dieses Bild. Dabei wurden gerade in Paris, in seinen bekannten und unbekannten Varietés, „exotische“ Körper auf die Bühne gestellt und auch die Bordelle spiegelten einen gewissen Orientkult, mit zum Beispiel orientalistisch ausgestatteten Räumen, wider.⁷

Auch im Luxemburg der 1920-er Jahre scheinen Orientfantasien en vogue gewesen zu sein. So wurde zum Beispiel 1925 der deutsche, in einem Harem spielende Tanzfilm Sumurun in den luxemburgischen Kinos gezeigt, 1924 stand der Oriental Palace auf der Schobermesse im Zeichen von Ägypten und auch auf orientalischen Maskenbällen wurde sich verkleidet und getanzt. Natürlich war das Nachtleben von Luxemburg-Bahnhof, nicht zu vergleichen mit Paris, der damaligen Hauptstadt der sexuellen Befreiung, in der Homosexualität, Polygamie und auch Prostitution teilweise enttabuisiert wurden.⁸

Obwohl sowohl Messauda Judith Sibon als auch Marie Innocenzia Mentz von den Luxemburger Behörden Prostitution vorgeworfen wurde, waren ihre Lebenslagen sehr unterschiedlich. Sibon war professionelle Tänzerin; Mentz war mit 14 zurückgelassen worden. Sibon wohnte in einem luxuriösen Hotel, dem Hotel Molitor; Mentz fand Unterschlupf, indem sie als Dienstmädchen arbeitete. Mentz wurde mit 14, während sie in einem Haushalt arbeitete, schwanger – dass dies mit einem Gewaltverhältnis in Zusammenhang steht, ist kaum auszuschließen. „Exotische“ Tänzerinnen reproduzierten mit ihren Shows zwar Stereotype über Verhalten und Sexualität von „Exotinnen“ und waren ebenso Gewaltverhältnissen ausgesetzt, trotzdem konnten sie sich sowohl gegen Annäherungsversuche von Freiern als auch gegen ihre Vorgesetzten wehren, wie Einzelgeschichten aus anderen europäischen Ländern zeigen.⁹ Selbstzeugnisse haben weder Sibon noch Mentz hinterlassen, was kein Zufall ist. Denn wer solche Zeugnisse hinterlässt, hat auch was mit Machtverhältnissen und Marginalisierung zu tun, was es umso wichtiger macht, sich ihre Geschichten anzuschauen.

Julia Harnoncourt forscht zu zeitgenössischer Geschichte am C2DH
1 Yolande Cohen, De parias à victimes. Mobilisations féministes sur la prostitution en France et au
Canada (1880-1920), Genre, sexualité & société,
11, 2014, 1.
2 Mauer, Heike (2018): Intersektionalität und Gouvernementalität. Die Regierung von Prostitution in Luxemburg. Dissertation. Leverkrusen-Opladen: Burdich (Politik und Geschlecht, Band 30).
3 Hörner (2001): Verborgene Körper - verbotene Schätze. Haremsfrauen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Kerstin Gering (Hg.): Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen. Berlin: dahlem univ. press, S. 176–207; Ferrié, Jean-Noel; Boetsch, Gilles (2019): La lente fabrication du stéréotype de l’Orientale et de l’Orientale. In: Tiffany Roux (Hg.): Sexualités, identités
& corps colonisés. XVe siècle - XXIe siècle. Paris: CNRS, 215–225.
4 Dumas, Juliette (2019): Le voile des Ottomanes.
In: Tiffany Roux (Hg.): Sexualités, identités & corps colonisés. XVe siècle - XXIe siècle. Paris: CNRS, S. 57–65; Yahi, Naima (2019): Les danseuses du ventre en France au XXe siècle.
In: Tiffany Roux (Hg.): Sexualités, identités & corps colonisés. XVe siècle - XXIe siècle. Paris: CNRS, S. 77–84; Hörner 2001.
5 Petit, Antoine (2019): Avant-Propos. In: Tiffany Roux (Hg.): Sexualités, identités & corps colonisés. XVe siècle -
XXIe siècle. Paris: CNRS, S. 9–10.
6 Boetsch 2019.
7 Dupouy, Alexandre (2019): Capitale du plaisir. Paris entre deux guerres. Paris: la manufacture de livres.
8 Dupouy 2019.
9 Robles, Fanny (2019): Spectacles ethnographiques et sexualité. In: Tiffany Roux (Hg.): Sexualités, identités
& corps colonisés. XVe siècle - XXIe siècle.
Paris: CNRS, 419–429, 425.

Julia Harnoncourt
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