Die Masernfälle haben weiter zugenommen. Im Gesundheitsministerium wird nicht ausgeschlossen, dass es eine „zweite Welle“ an Erkrankungen geben könnte

Herdenimmunität gewünscht

d'Lëtzebuerger Land vom 12.04.2019

In Val Thorens in der Savoie hatte im Februar alles angefangen. Bis zum 13. Februar waren in dem Skigebiet in den französischen Alpen fünf Masernfälle gezählt worden, bei 20 weiteren Personen mit Symptomen bestand ein Masernverdacht. Drei Wochen später hatte die Zahl der durch Laborbefund bestätigten Fälle auf 36 zugenommen. Erkrankt waren vor allem junge Erwachsene, die in dem Skigebiet arbeiten.

Weil Val Thorens eine über die Grenzen Frankreichs hinaus beliebte Ferien-Destination ist, steckten sich auch ausländische Touristen an. Anfang März meldete die schottische Gesundheitsbehörde einen Masernpatienten, der dort gewesen war, die dänische und die belgische Behörde meldeten je zwei. Kurz danach erfasste auch das Luxemburger Gesundheitsamt einen. Bis zum 22. März wurden die Masern bei sechs weiteren Personen festgestellt, die mit dem erkrankten Jugendlichen Kontakt hatten, bis zum 28. März bei elf, bis Anfang dieser Woche bei 15.

„Zurzeit liegen uns 19 durch Laborbefund bestätigte Masernfälle vor“, erklärt Pierre Weicherding, Leiter der Sanitärinspektion im Gesundheitsamt, dem Land. 16 Fälle hingen miteinander zusammen, „primär“ sei der des mit der Infektion aus Val Thorens zurückgekehrten Schülers. Für die drei anderen Fälle habe sich kein Zusammenhang finden lassen. Darüber hinaus seien dem Amt zwei weitere Masernpatienten bekannt, die in Frankreich gemeldet wurden, nicht in Luxemburg wohnen, aber mit Luxemburgern Kontakt hatten.

19 Masernfälle innerhalb knapp eines Monats ist für Luxemburg viel. Zwischen Februar 2018 und Januar 2019 waren es nur vier, je einer im April und im November vergangenen Jahres und zwei im August. Doch diese Fälle waren isoliert geblieben. Dagegen steckten sich im März und bis heute an einem „primär“ Infizierten offenbar 15 weitere Personen an. „Wir haben es“, sagt Pierre Weicherding, „mit einem kleinen Ausbruch zu tun.“ Auszuschließen sei nicht, dass es noch eine „zweite Welle“ geben könnte: „Wer sich infiziert hat, ist schon ansteckend, ehe die ersten Symptome auftreten.“ Die Inkubationszeit des Virus betrage etwa zehn Tage. „Kann sein, dass noch Erkrankungen folgen.“

Masern sind eine extrem ansteckende Viruserkrankung. In einer nicht-immunisierten Population könne ein Infizierter das Virus an 15 bis 20 Personen weitergeben, schrieben Gesundheitsamt und Sanitärinspektion im März auf der Webseite sante.public.lu des Gesundheitsministeriums und erinnerten daran, dass die Impfung der einzige Schutz vor Masern sei, der auch die weitere Verbreitung des Virus bremse.

Doch wenn sich an einem primär Erkrankten bislang 15 Personen ansteckten, sieht das nach einer nicht-immunisierten Population aus. Dabei ist die Impfrate gegen Masern eigentlich ziemlich hoch hierzulande: Zwei Impfdosen zu geben, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation WHO – die erste Injektion an Kinder im Alter von ungefähr zwölf Monaten, die zweite im Alter von 25 bis 30 Monaten. Gesundheitsminister Etienne Schneider (LSAP) erklärte Ende März auf eine parlamentarische Anfrage der CSV-Abgeordneten Nancy Kemp-Arendt, die „Abdeckung“ mit der ersten Dosis habe 2018 bei „ausgezeichneten“ 98,7 Prozent gelegen, die mit der zweiten Injektion allerdings nur bei 90 Prozent. Laut WHO wird erst ab 95 Prozent eine „Herdenimmunität“ erreicht: Dann schützt, wenn ein Virus von draußen hereingetragen wird, die Herde all jene, die nicht geimpft sind. Nicht zuletzt Kinder im Alter von unter zwölf Monaten.

Ist an der Europaschule in Mamer, von wo eine Schülerguppe nach Val Thorens in die Skiferien fuhr, die Masern-Impfrate besonders niedrig? „Das kann man nicht sagen, wir haben das überprüft“, sagt Pierre Weicherding. Masernerkrankungen sind meldepflichtig. Gehe eine Meldung ein, überprüfe die Sanitärinspektion das Umfeld des Erkrankten und dabei ebenfalls, inwiefern dort Impfschutz herrscht. Auch hätten sich nicht nur andere Schüler „sekundär“ infiziert, sondern „zum Teil auch Gesundheitsprofessionelle“. Und von den 19 bisher klar diagnostiziert an Masern Erkrankten seien nur 13 nicht geimpft gewesen, die anderen sechs sehr wohl und sogar „korrekt, soweit wir das einschätzen können“.

Schützt die Impfung am Ende nicht immer? – Dem deutschen Robert-Koch-Institut zufolge liegt die Wirksamkeit einer einzigen Impfdosis im Schnitt bei 91 Prozent, die zweier Dosen bei 93 bis 99 Prozent.Sei jedes Kind mit nur einer Dosis geimpft, müssten dennoch 95 Prozent der Bevölkerung immun gegenüber dem Virus sein, um Ausbrüche zu verhindern. Liegt die Impfung lange zurück, kann die Wirkung obendrein kleiner sein. Die sechs trotz Impfung mit Masern Infizierten hätten ihre Injektionen vor zehn Jahren oder noch früher erhalten, so Pierre Weicherding. „Wie gut der Impfstoff vor zehn bis zwanzig Jahren war, wissen wir nicht genau.“ Der Impfstoff enthalte abgeschwächte lebende Erreger, die könnten mit der Zeit nachlassen. „Deshalb wird davon ausgegangen, dass eine Impfung, die lange zurückliegt, nicht immer komplett schützt.“ Masernsymptome könnten auftreten, grippeähnliche Zustände und Fieber etwa. Komplikationen wie eine Lungenentzündung oder eine Hirnentzündung dagegen nicht. Deshalb laute die Strategie in Luxemburg: Zwei Impfdosen für kleine Kinder. Eine dritte für Gesundheitsberufler, die vor vielen Jahren zweimal geimpft wurden, desgleichen für andere „besonders exponierte Personen“. Und allen nach 1970 Geborenen werde geraten, nachzuschauen, ob sie zwei Mal geimpft wurden, und falls nicht, dies nachzuholen.

Ratsam erscheint das zum einen deshalb, weil das Masernvirus bereits durch „Tröpfcheninfektion“ weitergegeben wird: Infizierte verteilen beim Sprechen, Husten und Niesen winzige virushaltige Speicheltröpfchen in der Umgebungsluft. Andere können sie einatmen, und treten die Viren in den Speicheltröpfchen in Kontakt mit den Schleimhäuten in den Atemwegen, kann die nächste Infektion einsetzen. Masernviren können in der Luft bis zu zwei Stunden lang überleben. Weil eine Masernerkrankung mit Schnupfen und Husten beginnt, ist das Tröpfchen-Infektionsrisiko hoch.

Zum anderen nehmen beinah überall auf der Welt die Masernfälle zu. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schrieb im November 2018, der Zuwachs habe global im Jahr 2017 bei 30 Prozent gegenüber 2016 gelegen. 110 000 Todesfälle weltweit seien auf Komplikationen nach Masernerkrankungen zurückzuführen gewesen. Und wenngleich Komplikationen in armen Ländern häufiger sind als in reichen mit besserer Gesundheitsversorgung, sei die Zahl der Masernfälle besonders stark in Europa, im Nahen Osten sowie in Nord- und Südamerika gestiegen. Für Europa hatte die WHO schon Anfang 2018 festgestellt, dass sich die Fälle 2017 im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht hätten. Zwar meint die WHO mit Europa nicht etwa nur die EU, sondern eine Region, die 53 Länder umfasst. Die größten Masernausbrüche aber hätten sich neben der Ukraine in den EU-Staaten Italien und Rumänien ereignet.

Diese Entwicklung scheint ungebrochen weiterzugehen. In New York hat der Bürgermeister diese Woche den Masern-Notstand ausgerufen, Zwangsimpfungen und bei Weigerung tausend Dollar Strafgeld angeordnet. Das EU-Seuchenkontrollzentrum ECDC in Stockholm hielt am 8. März in seinem monatlichen Bericht fest, im Januar 2019 seien die meisten Masernfälle in dieser Reihenfolge in Rumänien, Italien, Polen und Frankreich gezählt worden. Wobei der Zuwachs in Italien, Polen, Frankreich und Österreich besonders hoch sei. Frankreich hatte im Januar 124 Masernerkrankungen gemeldet, dagegen 54 im Dezember und 61 im November. Einer Karte im ECDC-Bericht, die den Stand von 2017 zeigt, ist zu entnehmen, dass die Impfrate mit der „zweiten Dosis“ damals jedenfalls in Frankreich, Rumänien, Österreich und Griechenland besonders niedrig war.

„Impf-Zögerlichkeit“ (vaccination hesitancy) nennt die WHO eine der zehn größten Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit in diesem Jahr. Inwiefern es die in Luxemburg gibt und im Internet kursierende Theorien von Impfgegnern davon abhalten, Kinder impfen zu lassen, darüber möchte der Leiter der Sanitärinspektion nicht spekulieren: „Ich denke, dass die zweite Impfdosis nicht so oft verabreicht wird wie die erste, hat vor allem mit Vergesslichkeit zu tun.“ Bis zum zwölften Lebensmonat werden Kinder intensiv von Pädiatern betreut. Dass die Zahlung einer Familienzulage davon abhängt, die Kinder bis zu diesem Alter regelmäßig dem Kinderarzt vorzustellen, ist ein offenbar wirksamer Anreiz. Und niemand kann über Impfungen besser aufklären als ein Kinderarzt, der im Vertrauen aufgesucht wird.

So ist wahrscheinlich auch zu verstehen, dass trotz des „kleinen Ausbruchs“ der Gesundheitsminister bisher nicht daran denkt, eine Impfpflicht einzuführen. Abgesehen davon, dass deren Einhaltung nicht einfach zu kontrollieren wäre, könnte eine Zwangsmaßnahme bei Eltern Abwehrreaktionen auslösen. Und es ist gar nicht sicher, ob in der in Luxemburg stark ausgeprägten Ich-Gesellschaft dann noch verstanden würde, dass eine Impfung nicht nur dem eigenen Schutz und dem der Kinder dient, sondern auch eine solidarische Geste gegenüber der Allgemeinheit darstellt.

Peter Feist
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