Plädoyer für eine Einwohnerstaatsbürgerschaft

Luxemburg – eine Willensnation

d'Lëtzebuerger Land du 19.06.2015

Die Nation ist eine imaginierte Gemeinschaft, ein europäisches Produkt des langen 19. Jahrhunderts. Das heißt aber nicht, dass sie deshalb nur in den Köpfen der Menschen existieren würde und darüber hinaus keine Wirkmächtigkeit hätte. Trotz des Souveränitätsverlustes der Mitgliedstaaten der EU zugunsten supranationaler Instanzen, trotz der zunehmenden Entmachtung der Staaten durch die Finanzmärkte, trotz der Entstehung einer globalen Konsumkultur wird die Lebenswelt der Menschen noch weitgehend nationalstaatlich bestimmt.

Paradoxerweise gilt dies verstärkt für den Kleinstaat Luxemburg, dessen Wohlstand auf der Vermarktung seiner noch verbleibenden Souveränitätsnischen basiert. Auch bestimmen die Diskurse, die im 19. Jahrhundert erfunden wurden, um das Handeln der Nationalstaaten zu legitimieren und ihre Bürger zu einer Nation, einem Volk zusammen zu schweißen, immer noch weitgehend unsere heutigen Debatten. Die damals entstandene, etwas plakative Gegenüberstellung eines ethnokulturellen und eines politischen Nationsbegriffs ist heute noch hilfreich, um die in der Referendumsdebatte zum Ausländerwahlrecht aufgebrochenen Gegensätze zu überwinden. Letzteres sowie die Definition einer modernen Luxemburger Staatsbürgerschaft ist das Ziel dieses Beitrags.

Die ethnokulturelle oder romantische Definition der Nation knüpft an die gleichnamige deutsche Bewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an und schreibt der Nation eine in gemeinsamer Sprache, Kultur und Geschichte verankerte objektive Existenz zu. Auch wenn Begriffe wie Volksgeist oder Sprachenseele, in denen sich das eigentliche Wesen der Gemeinschaft jenseits von historischen Entwicklungen inkarnieren soll, heutzutage antiquiert wirken, so ist dieses Nationsverständnis im Alltagsbewusstsein unter Vokabeln wie „nationale Identität“, „Verwurzelung“ oder „Leitkultur“ noch immer weit verbreitet.

Es tritt auch in vielen Äußerungen der Befürworter des Ausländerwahlrechts zutage, so etwa bei einem seit über zehn Jahren in der Schweiz lebenden Luxemburger, der ein offizieller Sprecher der Ja-Kampagne war: „Ech kréien oft gesot, ech soll mech dach einfach Schwäizer maache loosse (…). Ech sinn ower Lëtzebuerger a gi net einfach esou zu engem Schwäizer, och net mat engem roude Pass mat wäissem Kräiz drop. Genee esou onéierlech wier et, zu Lëtzebuerg eng grouss Partie vun der Bevölkerung ze hunn, déi just um Pabeier Lëtzebuerger sinn, aus praktesche, finanziellen oder steierlech administrative Grënn.“ Bei anderen Anhängern findet sich diese Aussage noch deutlicher: „Ech ka net verstoen, wéi een d’Nationalitéit duerch e Pabeier ännere soll. Et huet een eng vu Gebuert un. Dat ass kee perséinlech Merite.“1

Dass der ethnokulturelle Nationsbegriff mit der Luxemburger Geschichte nicht vereinbar ist, hat Gilbert Trausch durch die Dekonstruktion ihrer gängigen Mythen – angefangen bei den „Fremdherrschaften“, dem „Klöppelkrich“ und so weiter – aufgezeigt. Auch die Luxemburger Sprache ist so jung, dass sie nicht als historischer Anker taugt. 1853 konnte man in dem ersten Luxemburger sprachwissenschaftlichen Buch lesen, dass „das Luxemburger volk, wie seine sprache, durchaus deutsch“ sei, und bis in die 1930-er Jahre wurde das Land allgemein als zwei- und nicht als dreisprachig angesehen.

Auch weil Luxemburg ein Einwanderungsland ist, kann es nicht als Abstammungsnation gedacht werden: Nach der Volkszählung von 2011 hatten lediglich 65 Prozent der Luxemburger Staatsbürger keinen Migrationshintergrund, in dem Sinne, dass sie und ihre beiden Eltern in Luxemburg geborenen wurden. Mit einer extensiveren, die Großeltern miteinbeziehenden Definition sind die „wahren“ Luxemburger im ethnischen Sinne längst in der Minderheit.

Demgegenüber steht der politische Nationsbegriff, der auf die Französische Revolution zurückgeht: „Qu’est-ce qu’une nation? Un corps d’associés vivant sous une loi commune et représentés par la même législature“, schrieb Abbé Sieyès 1789. Die Nation wird so zum Kampfbegriff gegen die feudale Ordnung und zum Versprechen der Gleichheit all ihrer Bürger. Die Nation hat folglich nur eine subjektive Existenz, da sie von allen, die sich ihr zugehörig fühlen und bereit sind, ihre Regeln einzuhalten, als große Solidargemeinschaft gebildet wird, wie es auch in Ernest Renans Metapher des „täglichen Plebiszits“ zum Ausdruck kommt.

Minte2, die Plattform der Befürworter des Ausländerwahlrechts, spricht sich implizit gegen eine politisch definierte Staatsbürgerschaft aus, wenn sie schreibt: „Nationalitéit a Wahlrecht hunn ausserdeem näischt mateneen ze dinn“ und diese „Nationalitéit“ dann vom staatbürgerlichen Akt des Wählens loslöst. Eine so ausgehöhlte „Nationalitéit“ reduziert sich auf nationalistische Gefühle und Abstammung, so dass die Minte-Anhänger ihren Gegnern Rückwärtsgewandtheit oder gar „Rassismus“ unterstellen können. Auch wurde das Nein oft von ihnen als eine Absage an die Mehrsprachigkeit, beziehungsweise als sprachlicher „repli identitaire“, als Rückzug in eine heile, einsprachig luxemburgisch Welt umgedeutet.3 Solche Positionen sind sicher unter den Nein-Wählern wesentlich stärker vertreten als unter Ja-Wählern. Die Unterschiede sind jedoch gradueller Natur, wie eine TNS-Ilres-Umfrage zeigt.4 Dass man die Luxemburger Sprache beherrschen sollte, um wählen zu dürfen, sagen 94 Prozent der Nein-Wähler, aber auch 70 Prozent der Ja-Wähler. Selbst bei den Ausländern sind es immerhin noch 66 Prozent.

Im Vorfeld der Debatten um die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft hat Gilbert Trausch für die Übernahme des von Jürgen Habermas vorgeschlagenen Verfassungspatriotismus plädiert. Dieser „leitet die Zugehörigkeit zu Gemeinwesen nicht aus vorpolitischen Gemeinsamkeiten ab, sondern aus der freiwilligen, überzeugten Zustimmung zu den zentralen Prinzipien liberaler Verfassungen und aus der möglichst aktiven Beteiligung an einer vielfältigen politischen Praxis.“5 Für Trausch könnte er zum „espace de rencontre“ zwischen Luxemburgern und Nicht-Luxemburgern werden. „Les Luxembourgeois auront toujours pour leur terre natale un attachement viscéral. On ne pourra guère le demander aux étrangers vivant sur le sol luxembourgeois. Ils ne vibreront pas au son de la Hémecht. Mais ils trouveraient dans ce Verfassungspatriotismus un chemin menant vers une identification avec le pays.“6

Zu Recht hat man Habermas vorgeworfen, sein Konzept sei ein intellektuelles Konstrukt und vernachlässige die mit jeder Gruppenzugehörigkeit einhergehenden emotionalen Bindungen. Dieser Vorwurf lässt sich aushebeln durch die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft, die dem Bürger seine geerbte emotional besetzte Staatsbürgerschaft lässt und ihm eine zweite, zumindest anfangs weniger tief verankerte, zusätzlich gibt. Das Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft wurde gegen die Stimmen der ADR und mit zusätzlichen Auflagen (ein Sprachentest, eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer von fünf auf sieben Jahre), um die CSV-Bedenken zu beruhigen, angenommen.

Seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 2008 haben knapp 20 000 Menschen die Luxemburger Staatsbürgerschaft durch Naturalisierung angenommen. Es hat aber auch eine weitere, auf dem Konzept der Abstammungsnation beruhende Möglichkeit zur Wiedererlangung (recouvrement) der Staatsbürgerschaft eingeführt. Wer Luxemburger Vorfahren nachweisen kann, bekommt die Staatsbürgerschaft, auch wenn er weder in Luxemburg wohnt, noch eine der drei Landessprachen spricht. Damit wird eine Kategorie von ethnischen Luxemburgern geschaffen, mit denen man der Lobby der USA-Auswanderer entgegenkommen wollte. Man hoffte auf den Onkel aus Amerika, aber es kam der Neffe aus Belgien. Bislang haben 6 000 „Nachfahren“ Gebrauch von dieser Regelung gemacht.

Die Diskussion um das Ausländerwahlrecht hat die bereits von der Vorgängerregierung angestrebte Reform des Gesetzes von 2008 zurück auf die Tagesordnung gebracht. Unter dem Druck eines möglichen Ja-Erfolges haben sich die CSV und sogar die ADR zu weiteren Erleichterungen der Zugangsbedingungen durchgerungen. Während die spektakulärste – die automatische Erlangung der Staatsbürgerschaft für in Luxemburg geborene Kinder, also ein jus soli – von 71 Prozent der befragten Luxemburger befürwortet wird, erlangen die anderen Maßnahmen – Reduzierung der Residenzdauer auf fünf Jahre, Vereinfachung der Sprachentests, Entbindung von diesem Test nach 20-jährigem Aufenthalt – keine Mehrheit.

Aber die Kampagne hat Wunden geschlagen und es bleibt abzuwarten, ob das Nein der Luxemburger zum Einwohnerwahlrecht in ein Ja zur Einwohnerstaatsbürgerschaft verwandelt werden kann. Allen in Luxemburg dauerhaft Wohnenden, so sie es wollen und bereit sind, die gewachsene Gesellschaft in der Kontinuität weiterzuentwickeln, muss die Möglichkeit gegeben werden, Luxemburgs Zukunft mitzugestalten. Also zu Luxemburger Staatsbürgern zu werden. Nicht die Abstammung, nicht die Luxemburger Sprache, sondern allein der Wille, das Projekt Luxemburg in die Zukunft weiter zu schreiben, kann die Grundlage der Luxemburger Nation darstellen. Dazu bedarf es Überzeugungsarbeit. Bei den Neubürgern, die oft Schwierigkeiten haben sich auf die operettenhafte Kleinstaaterei einzulassen. Bei den Altbürgern, die um ihre Sprache fürchten und nicht sehen, dass die vielen Immigranten, die sie als Fremdsprache gelernt haben, ihr bester Zukunftsgarant sind. Luxemburg kann nur als offene Willensnation in einem föderalen Europa überleben. Das Schlusswort sei dem Staatschef überlassen, der es bei dem ersten laizistischen Staatsakt zum Nationalfeiertag 2014 gesprochen hat.

„Déi éischter ethnesch orientéiert Konzeptioun vun der Natioun ass zanter laangem vun de Realitéiten dementéiert ginn. An engem Land ewéi äist, wou praktesch d’Halschent Net-Lëtzebuerger wunnen a wou se zwee Drëttel vun der aktiver Populatioun ausmaachen, ergëtt dat kee Sënn méi. Aplaz hu sech vill méi offe Konzeptiounen vun der Natioun imposéiert. Anerersäits – an dat weist äis d’Aktualitéit all Dag op en Neits – ass d’Citoyennetéit eng subtil Mëschung vu Rechter a vu Pflichten, vu kollektiver Unerkennung a vun individuellem Bekenntnis. Et ass een net als Bierger gebuer, mä et gëtt een et.“7

1 http://facebook.com/pages/Jo-Awunnerwahlrecht2 Minte, „Jo“ zum Wahlrecht. Firwat?, S. 36. http://minte.lu/3 Jang Lichtfous, „Ni méi ,en français‘, endlech si mer ënnert eis“. Lëtzebuerger Journal, 12.6.20154 Enquête téléphonique et en ligne du 28 mai au 5 juin auprès de 1 459 personnes dont 1 161 électeurs5 Helmut König, „Der Humus aus Freiheit und Bürgerbeteiligung“. Neue Zürcher Zeitung, 5.1.20116 Gilbert Trausch, „D’un concept de la nation à un autre“. Forum 271, 2007, S. 327 www.gouvernement.lu/3803882/23-discours-grand-duc-ceremonie
Fernand Fehlen
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