Das Lëtzebuerg City Museum hat Bewohner/innen der Hauptstadt
dazu aufgerufen, Gegenstände zu spenden, die ihren Corona-Alltag
geprägt haben

Pandemie-Andenken gesucht

d'Lëtzebuerger Land vom 09.10.2020

Stellen Sie sich vor, Sie müssten eine Ausstellung zu Corona planen: Was würden Sie ausstellen? Was ist für Sie der wichtigste Gegenstand im Lockdown gewesen, oder was verkörpert in Ihren Augen am besten, die Folgen des Virus auf Ihr Leben und Ihr persönliches Umfeld? Wie kann man die Veränderungen, die ein unsichtbares, mitunter tödliches Virus für uns hat und hatte, das die Arbeit, die Freizeit und den Haushalt veränderte und breite Teile der Wirtschaft lahmlegte, museal darstellen?

„Die meisten denken natürlich zuerst an die Maske. Wir müssen sie im Transport zum Schutz tragen, sie ist aus dem Straßenbild nicht mehr wegzudenken“, sagt Gilles Genot, Kurator des Lëtzebuerg City Museum, der sich über diese Fragen den Kopf zerbricht. Das Stater Musée hat die Bürgerinnen und Bürger der Hauptstadt im April dazu aufgerufen, den Gegenstand oder das Werk einzusenden, das ihren Corona-Alltag geprägt hat und diesen so nicht nur für das individuelle, sondern für das kollektive Gedächtnis bewahren.

Zusammen mit Institutionen wie dem Centre national d’audiovisuel oder dem MNHA wird breitflächig im Land zur Corona-Pandemie gesammelt. Der Aufruf ist Teil einer Initiative der Uni Luxemburg. Forscher um den Geschichtsprofessor Benoît Majerus der Uni Luxemburg haben im Rahmen von Yes we care gezielt Pfleger und Krankenschwestern zur Corona-Pandemie befragt: Ihre Augenzeugenberichte sollen helfen, ein präzises Bild von der Gesundheitskrise und vor allem den medizinischen Herausforderungen im Kampf gegen eine Ausbreitung des Sars CoV2-Virus zu bekommen. Auf covidmemory.lu werden Filme und Fotos gesammelt, die die Stimmung beschreiben, etwa von einer menschenleeren Stadt oder einer Intensivstation. Andere Bilder und Einsendungen erzählen davon, wie Menschen den Lockdown erlebt haben: Mit dem Smartphone war es nie so leicht, Momente einzufangen und Dokumentationen zu erstellen.

„Viele haben zunächst Masken eingesendet, selbstgenähte oder gekaufte. Aber wir haben auch ausgefallenere Gegenstände zugeschickt bekommen, wie das hier“, sagt Genot und er zeigt auf den Bildschirm seines Computers: Dort ist ein grünes Tisch-Gewächshaus zu sehen, wie es in den 1990-er unter Ökos und Studierenden Mode war: „Jemand hat angefangen, selbst Sprossen zu ziehen.“ Andere haben das Backen oder Kochen für sich entdeckt und alle möglichen süßen und salzigen Rezepte ausprobiert, da die Restaurants geschlossen waren. Eine 86-jährige Dame hat einen Bettüberwurf gespendet, den sie während des Lockdown gehäkel hat, um Gefühle der Einsamkeit zu vertreiben. Wegen der besonderen Schutzauflagen für Risikogruppen konnte sie weder ihr Zimmer verlassen, noch konnte ihre Familie sie wie sonst besuchen, erzählt Genot. Einer hat ein Stück Holz von einer Terrasse eingesendet, die er während der Ausgangsbeschränkungen endlich gebaut hat.

Die Decke und das Holzstück sind nur zwei von vielen persönlichen Gegenständen, Zeichnungen, Tagebucheinträgen und anderen Erinnerungen, die das Lëtzebuerg City Museum rund um das Coronavirus von Zeitzeugen sammelt.

Auch Dinge wie die Warnschilder oder Absperrkonstruktionen sind für das Museum interessant. „Wir haben überdies die Stadtverwaltung und deren Dienste angeschrieben, denn wir sammeln spezifisch von und über die Stadt“, sagt Genot. Busse hielten während des Lockdown einen minimalen Fahrdienst aufrecht, um das Buspersonal zu schützen und um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren, wurden Absperrungen eingebaut und Hinweisschilder aufgehängt, dass Passgieren die Mitfahrt nur mit einer obligatorischen Maske erlaubt ist.

Die Kinder einer Tagesstätte in Bonneweg hatten Bilder mit Regenbögen und hoffnungsfrohen Blumen gemalt und am Wegesrand aufgehängt, um sich bei denjenigen zu bedanken, die trotzdem die Müllereimer weiter geleert, die Straßen gekehrt und so die Stadt sauber gehalten haben. Gilles Genot hat angefragt, diese Kinderzeichnungen ebenfalls für die Sammlung zu gewinnen.

So versucht das Museum, möglichst viele Aspekte rund um das Virus einzufangen. Was prägend für die Pandemie in der Hauptstadt ist, ist zu diesem Zeitpunkt nicht so einfach zu bestimmen: „Das wirft grundsätzliche Fragen auf, etwa, ab wann etwas ein historisches Ereignis ist, wie Menschen es erleben und was später Historiker oder Kuratorinnen daraus machen“, gibt Genot zu bedenken.

„Historische Ereignisse zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie abgeschlossen sind.“ Methodologisch ist das nicht ohne: Wie stellen Kurator/innen die Exponate zusammen, wie entscheiden sie, was wichtig ist und was sich als Zeitzeugnis für künftige Ausstellungen eignet und was nicht? Können sie zu diesem frühen Zeitpunkt die Pandemie bereits einordnen? Ursprünglich sollte der Aufruf nur bis April nächsten Jahres gelten, jetzt wurde die Frist auf unbefristet erweitert. „Wir haben gezielt nach Gegenständen, Werke und Zeitzeugnissen gefragt, die nicht mehr gebraucht werden“, erzählt Genot. Beatmungsgeräte sind teuer und werden womöglich noch gebraucht, schließlich gibt es weiterhin keinen Impfstoff gegen das Virus.

Ist der Backautomat, der im Lockdown zum Zeitvertreib gedient hat, repräsentativ für die Herausforderungen der Corona-Krise im Alltag der Stadtbevölkerung? Oder eher für eine bestimmte Schicht, die sich im Lockdown Müßiggang leisten konnte und nicht wie die Supermarktangestellten und Kassiererinnen jeden Morgen weiter zum Schichtdienst antreten musste?

Wer liest und folgt einem solchen Aufruf – und was bedeutet das für die Zusammenstellung einer Sammlung? Das Museum hat den Aufruf in den drei Sprachen Französisch, Deutsch und Englisch verfasst und an die Redaktionen geschickt: „Wir erreichen sicherlich nicht alle“, räumt Genot freimütig ein.

Die Bedeutung der Pandemie könnte sich im Laufe der Zeit relativieren, etwa wenn andere, noch tödlichere Viren, die bisher nicht bekannt sind, die nächste Pandemie auslösen oder andere Katastrophen oder Ereignisse eintreten, die für die Menschen von noch größerer Bedeutung sein werden als das Virus, das weltweit immerhin schon über eine Million Todesopfer gefordert hat. „Die Pandemie könnte der Anfang einer größeren Krise sein, die andere Umwälzungen provoziert, von denen wir heute noch nichts ahnen“, so Boris Fuge, Pressesprecher des Städtischen Museums. Ähnlich wie bei der Spanischen Grippe, die wohl Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, deren Schrecken aber rasch durch die Wirtschaftsnot nach dem Ersten Weltkrieg überlagert wurden.

Für die meisten Medien gab es in den vergangenen Wochen und Monaten fast nichts anderes als Nachrichten rund um das Virus, Statistiken zum Infektionsverlauf, zum R-Faktor und die wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Doch auch Medien verzerren die Perspektive, wenn sie falsche Akzente setzen, sei es aus Verkaufsgründen, weil eben diese Nachrichten in der Krisenzeit besonders nachgefragt werden, oder weil Journalisten selbst das Ereignis als „historisch“ erleben und hochspielen: „Den Obdachlosen ohne Dach überm Kopf oder dem syrischen Kind im Flüchtlingscamp Moria ist das Coronavirus vielleicht herzlich egal“, gibt Gilles Genot zu bedenken. ●

Wer Zeitzeugnisse zur Pandemie dem Lëtzebuerg City Museum spenden will, kann dies unter www.citymuseum.lu/collection tun

Ines Kurschat
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