My brother, my sister heißt das Projekt, mit dem die Vereinigung Fundamental jungen Arbeitsmarkteinsteigern helfen will, ihr Selbstbewusstsein zu steigern

Was für ein Theater

d'Lëtzebuerger Land vom 17.05.2013

„Guten Tag. Mein Name ist Nuno, ich bin 32, arbeitslos und geschieden. Früher habe ich bei einem Elektriker gearbeitet, bis die Firma insolvent wurde. Weil ich keinen Abschluss habe, ist es schwierig, eine neue Stelle zu finden. Als ich arbeitslos wurde, habe ich angefangen Drogen zu nehmen und zu trinken. Das ist die Zusammenfassung von meinem Leben. Einem richtigen Scheißleben. Ich habe einen kleinen Sohn, den ich im Moment nicht sehen kann. Er gibt mir die Kraft, nach vorne zu schauen, aus den Drogen und dem Alkohol raus zu kommen. Für ihn würde ich alles tun. Wenn ich Arbeit hätte, würde mir das etwas anderes zum Nachdenken geben, anstatt nur alleine zu Hause sein.“

Während am Mittwoch Nachmittag im Parlament Regierung und Abgeordnete über die Lage am Arbeitsmarkt und die Reform der Adem diskutieren, steht Nuno in der Mitte des Proberaums der Banannefabrik in Bonnweg. Er spricht klar und deutlich, blickt dem kleinen Publikum in die Augen, das gespannt und merklich berührt zuhört. Er ist einer von insgesamt noch 19 jungen Menschen, die beim Theater-Projekt My brother, my sister der Fundamental asbl, deren Fundamental Monodrama Festival vom 6. bis zum 15. Juni in der Banannefabrik stattfindet, mitmachen. Seit Januar treffen sie sich einmal wöchentlich, um unter der Anleitung von Schauspielern und Regisseuren ihr eigenes Monodrama zu entwickeln.

„Ein Soloauftritt bringt für den Darsteller immer eine Reihe von technischen schauspielerischen Problemen mit sich. Wenn man alleine auf der Bühne ist, muss man jeden Impuls aus sich selbst herausholen“, sagt Steve Karier, Schauspieler, Fundamental-Vorsitzender und Mitinitiator des Projekts. Wer das meistert, kann auch in anderen Situationen, in denen er oder sie auf sich selbst gestellt ist, die eigene Kraft mobilisieren, so die Überlegung. Die Teilnehmer von My brother, my sister sind allesamt in eine der Integrationsmaßnahmen eingeschrieben, mit denen jungen Leuten beim Einstieg in den Arbeitsmarkt geholfen werden soll, haben einen Contrat d’initiation à l’emploi (CIE) unterzeichnet oder sind bei einer Beschäftigungsmaßnahme „eingestellt“. „Viele von ihnen gelten noch nicht einmal als Arbeitslose“, erklärt Karier, „weil sie noch nie eine wirkliche Anstellung hatten.“ Dass ihnen die Sonderverträge helfen würden, einen festen Job zu finden, hat Karier noch nicht oft beobachtet. Eher würden sie von Stelle zu Stelle geschickt, ein paar Monate hier, ein paar Monate da arbeiten. „Oft wissen sie gar nicht, wo und unter welchen Bedingungen sie in den folgenden Wochen arbeiten werden.“ Das verunsichert. Diesen Jugendlichen mehr Selbstbewusstsein zu geben, die Instrumente, mit sozialen und beruflichen Konfliktsituationen umzugehen, ist das Ziel, so Karier.

Dabei werden die Teilnehmer auf mehreren Ebenen herausgefordert. Einerseits geht es darum, sich die Fähigkeiten für einen Soloauftritt anzueignen. Eine klare Aussprache, eine gezielte Anrede, die physische Präsenz, die Fähigkeit, verschiedene Emotionen zu vermitteln. Andererseits gilt es, die Geschichte aufzubauen, die beim Auftritt erzählt werden soll. Manche erzählen ihr eigenes Leben. Umso mehr Mut verlangt die Übung. „Die eigene Biographie zu erzählen, heißt, sich ihr zu stellen, sie im Griff zu haben“, so Karier, „man muss sich damit auseinandersetzen, wie man in die Situation gekommen ist, in der man sich befindet, und welchen Anteil man selbst daran hat.“ Andere erzählen, ausgehend von der eigenen Vita, von Zukunftsträumen. Was auch heißt, dass sie sich überlegen müssen, wie realistisch diese sind, und ob sie mit ihrer Selbsteinschätzung richtig oder völlig daneben liegen. Dann gibt es die Kreativen, die sich eine Erzählung ausdenken, die mit ihnen selbst kaum etwas zu tun hat.

David, 22, schlüpft bei seiner Ich-Erzählung in die Rolle eines Feuerwehrmannes. Leben retten ist sein Beruf. Die letzte Schicht verlief allerdings ruhig, es gab keinen Einsatz, er und die Kollegen haben die Rettungswagen gewaschen und das Material gewartet. Abends ist er gern zu Hause. Er ist ein Alltagsheld. Vor drei Wochen, als die Gruppe anfing, ihre Figuren näher zu umreißen, löste das eine lebhafte Diskussion darüber aus, was Heldentum ist, ob es Helden überhaupt gibt. Der richtige David hat eine 9e MO abgeschlossen, arbeitet in den Ateliers der Schläifmillen, My brother, my sister hat ihm die Adem als Schulung angeboten, um seine Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern. „Noch am gleichen Tag hab ich meiner Chefin gesagt, dass ich mitmachen will. Das erste Treffen hat mir sofort gefallen. Seit ich mitmache, habe ich viel mehr Vertrauen in mich selbst.“ Davids Plan: Auf dem Weg der Erwachsenenausbildung ein Handwerk lernen. Maler, Fliesenleger oder Elektriker würde er gern werden. Die Kollegen bei der Arbeit ziehen ihn gerne damit auf, dass er „Theater“ macht. „Aber das geht zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr raus.“

Ein gesundes Maß Selbstvertrauen brauchen die brothers und sisters schon allein für die theater­üblichen Lockerungs- und Aufwärmübungen. Dehnen, Strecken, Schütteln, Hüpfen, Schnauben, Zungengymnastik – sich ohne Scham derart vor anderen Menschen zum Affen zu machen, wäre für Viele, mit oder ohne Festanstellung, eine unüberwindbare soziale Hürde. Zum festen Team gehören neben Steve Karier, die Regisseurin Anne Simon, die Schauspielerin und Regisseurin Sophie Langevin und der Sozialpädagoge René Clemens, der als Nicht-Theatermensch für den Blick von außen sorgt. Punktuell unterstützt wurden sie von der Tänzerin Sylvia Camarda und dem Sänger Jean Bermes. Mit Camarda haben die Projektteilnehmer Yoga gemacht und Hiphop getanzt, mit Bermes die Stimme trainiert. Das Tanztraining dient der besseren Körperwahrnehmung, soll den Jugendlichen helfen zu lernen, wie man sich im Raum bewegt, ihn in Anspruch nimmt. Beim Gesang- und Stimmtraining üben sie, so zu reden, dass sie wahrgenommen werden und ihre Botschaften ankommen.

„Hallo meine Damen und Herren. Ich bin Jean, ich habe in Essen gespielt. Der Trainer war mit mir sehr zufrieden. Deswegen habe ich beschlossen, Profi zu werden. Ich bin der beste Spieler. Ich suche eine Mannschaft in Manchester, Barcelona oder München. Dann verdiene ich viel Geld, werde mir eine große Villa kaufen und teure Autos, wie Ferraris, Lamborghinis oder BMWs“, erzählt Jean. Zwischendurch dribbelt er mit einem Damenschuh, weil kein Ball zur Hand war. Fürs Publikum ist das urkomisch, aber Jean findet das nicht witzig. Für ihn bleibt es trotz monatelangem Training offensichtlich schwierig, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen. „Sehr gut“, lobt Sophie Langevin nach Jeans erstem Durchgang diese Woche. „Aber bei deiner Geschichte versteh ich nicht, was in Essen passiert ist, dass du da nicht mehr spielst.“ Was in Essen geschehen ist, dass der westafrikanische Fußballer, der eigentlich auf der Suche nach einem Profivertrag ist, in Luxemburg gelandet ist, bleibt auch nach Wochen der Zusammenarbeit Jeans Geheimnis. Jean ist im Nachteil, weil er einer derjenigen ist, für den das Programm rein sprachlich eine Herausforderung ist. Er kann den französischen Anweisungen nicht immer folgen. Dennoch war er am Mittwoch als erster da, während die anderen nach und nach eintrudelten.

Dass die Jugendlichen sehr unterschiedliche Hintergründe haben und sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, macht die Arbeit umso komplexer, ist aber kein Hindernis für den Erfolg. Weil es den Projektleitern nicht darum geht, alle Teilnehmer auf ein gewisses schauspielerisches Niveau zu bringen, sondern sie bei der persönlichen Weiterentwicklung zu unterstützen. Gemessen wird der Erfolg deshalb nicht am Endergebnis, sondern am individuellen Fortschritt. Eine Aufführung der einzelnen Monodramen vor großem Publikum wird es deshalb auch nicht geben. Zwar ist My brother, my sister Teil des Monodrama-Festivals. Doch am 6. Juni werden vor allem die Methoden und Techniken gezeigt, die zum Einsatz gekommen sind. Aus zwei Gründen, wie Steve Karier erklärt: „Als Fundamental-Vereinigung ist Hobbytheater nicht unser Ziel.“ Bedenklich sei bei Projekten, an deren Ende eine große Aufführung stehe, auch der psychologische Effekt auf die Teilnehmer. Wenn nach der Vorstellung als Ziel einer monatelangen, intensiven Zusammenarbeit alles abrupt vorbei ist, riskierten sie in ein Loch zu fallen, sagt Karier. Deswegen will er My brother, my sister auch nach dem Juni weiterlaufen lassen. Das ist möglich, weil das Budget von 70 000 Euro noch nicht vollkommen aufgebraucht ist.

Finanziert wird My brother, my sister von JP Morgan Philantropy, die Œuvre nationale de secours Grand-duchesse Charlotte übernimmt die Verwaltungskosten. Karier plant die Methode auch auf anderen Ebenen anzuwenden, hat konkrete Anfragen, das Programm für Senioren anzupassen. Dass My brother, my sister kein einmaliges Projekt bleibt, sondern daraus ein reproduzierbares Programm zur Förderung jugendlicher Arbeitsloser wird, ist eines der Ziele, die JP Morgan mit seiner Förderung verfolgt, wie Nadzda Kozomara, Vize-Präsident von JP Morgan in Luxemburg bestätigt. Karier hofft für die Zukunft eine Mischfinanzierung aus öffentlichen und privaten Geldern sichern zu können. „Wir schaffen keinen einzigen Arbeitsplatz. Aber vielleicht können wir dafür sorgen, dass wenn in Zukunft ein Arbeitgeber entscheidet, welche Mitarbeiter er in der Firma hält und welche nicht, unsere Leute zu denen gehören, die bleiben.“ Paul Reuter, Leiter des Ausbildungszentrums von Pro Actif in Lintgen, ist dermaßen von den Ergebnissen überzeugt, dass auch er plant, ein Theatermodul ins reguläre Programm des Zentrums einzubauen. „Das gibt jungen Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu finden. Und ihre Grenzen. Junge Arbeitslose sind sich ihrer oft nur wenig bewusst“, so Reuter, der eine ganze Reihe der Jugendlichen, die er betreut, zu My brother, my sister geschickt hat. Die Entwicklung eines jungen Mannes hat ihn besonders beeindruckt. „Als er hier anfing, hat er nie jemandem in die Augen geschaut, genuschelt, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Nach anderthalbem Monat Theatertraining hat er artikuliert und beim Reden meinen Blick erwidert.“

Ein wenig ironisch ist es schon, dass sich Jorge bei einem von einer Bank finanzierten Workshop als Figur ausgerechnet einen professionellen Bankräuber ausgedacht hat, der schon öfter geschnappt wurde und wieder geflohen ist. Um nicht erpressbar zu sein, will er keine Familie haben. Weil ohnehin alle Angst vor ihm haben, ist das Bankräuberleben ziemlich einsam. Er fühlt sich allein. Bis ihn beim letzten Überfall die Kugel der Ermittlerin wie Amors Pfeil trifft und er sich verliebt. Wie sein Bankräuber mit dem Schicksal hadert, was er sich ausdenkt, um Kontakt zu ihr aufzunehmen, hat durchaus Unterhaltungswert. Im richtigen Leben ist Jorge über einen CIE als aide-éducateur in einem Jugendhaus eingestellt. Vorher hat er jeweils über längere Zeit bei einem Installateur und als Verkäufer in einem Baumarkt beziehungsweise einem Elektronikhandel und für kurze Zeit auch als Dachdecker gearbeitet. „Ich war anfangs ein wenig skeptisch, aber nach dem ersten Kurs war ich super zufrieden“, sagt Jorge über den Theaterkurs. „Am Anfang war es etwas schwierig mit anderen Erwachsenen zu spielen. Aber jetzt kann ich das bei meiner Arbeit mit den Kindern im Jugendhaus einsetzen. Ich kann streng oder nett sein und ich mache das nicht unbewusst.“ Jorge hat sich an einer belgischen Schule eingeschrieben. Er will sich über drei Jahre zum éducateur gradué ausbilden lassen.

Michèle Sinner
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