ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Mietstreitigkeiten

d'Lëtzebuerger Land du 16.10.2020

Am Samstag demonstrierten schätzungsweise tausend Leute in der Hauptstadt für erschwinglichen Wohnraum. Waren die zwei Gesetzentwürfe der Regierung zur Reform des Mieterschutzes und zur Fortsetzung des Pacte logement also umsonst?

Weil er entscheidend die Reproduktionskosten der Arbeitskraft mitbestimmt, greifen alle Regierungen in den Wohnungsmarkt ein. „Ceci est indispensable pour préserver la cohésion sociale et la dynamique économique du pays“, erklärt der Motivenbericht zur Reform des Wohnungsbaupakts. Doch wenn auf dem Wohnungsmarkt Warenkapital Verbrauchern seinen Gebrauchswert leiht und die Aussicht auf fette Mieten die Grundrente erhöht (nicht umgekehrt), stehen sich widersprüchliche Interessen gegenüber.

Im Motivenbericht zur Mietgesetzreform heißt es, dass „[l]a hausse continue des loyers au cours des deux dernières décennies a […] comme conséquence que l’accès au logement locatif du marché privé devient de plus en plus difficile au Grand-Duché pour les catégories de personnes ayant des revenus faibles ou modérés“.

Aus der Sicht der Ertragshausbesitzer heißt das, dass die „revenus faibles ou modérés“ erhöht werden müssen, um die hohen Mieten zahlen zu können. Manche Ertragshausbesitzer beschäftigen auch Personal, aber es mietet bei einem anderen. Sie räsonieren individuell.

Aus der Sicht von Industrie und Handels verlangt die Unerschwinglichkeit der Wohnungen dagegen, dass die Mieten gesenkt werden müssen, damit die Arbeitskräfte keine höheren Löhne benötigen. Ein Ökonom der Handelskammer strengte zu diesem Zweck jüngst einen Schauprozess an.

Die „personnes ayant des revenus faibles ou modérés“ sitzen zwischen den Stühlen. Sie fühlen sich von zwei Seiten ausgepresst. Einige demonstrierten am Samstag.

Die staatlichen Eingriffe in den Wohnungsmarkt richten sich nach dem ökonomischen und politischen Einfluss der Interessengruppen: Laut Observatoire de l’habitat müssen zwei Drittel der Haushalte mit „revenus faibles“ und ein Viertel der Haushalte mit „revenus modérés“ über
40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben. Aber im Indexwarenkorb zur Anpassung der Löhne an die Preisentwicklung sind die Mieten bloß mit 4,86 Prozent gewichtet. Damit die Betriebe die Löhne nicht anpassen müssen, wenn das Mietpreisniveau steigt.

Um die Höhe der Mieten zu gewährleisten, zahlt die öffentliche Hand Mietern mit geringen Einkommen Zuschüsse, die an die Vermieter weitergereicht werden. So verteilen Mietzuschüsse Steuereinnahmen um. Zur Unterbringung von Haushalten, die Ertragshausbesitzern wirtschaftlich uninteressant erscheinen, betreibt der Staat zusammen mit den Gemeinden sozialen Wohnungsbau. Aber „le Pacte logement 1.0 a failli largement de contribuer à la création de logements abordables“, stellt der Motivenbericht zu seiner Neuauflage fest. Er war also erfolgreich. Denn sozialer Wohnungsbau muss bescheiden bleiben. Sonst drückt er auf die Preise, insbesondere für Altbauwohnungen.

Die alten Grundeigentümer und die neuen Immobiliengesellschaften werden neuerdings als Spekulanten schlechtgemacht. Die versprochene Steuerreform beschränkt sich nun auf die Verengung ihrer Schlupflöcher. Neben ihnen ist eine Schar anscheinend ehrbarer Mittelschichtler im Geschäft. Statt in zinslose Sparkonten legen sie ihr Erspartes lieber in Apartments an. Sie rechnen fest mit der im Mietgesetz versprochenen fünfprozentigen Jahresrendite. Fünf Prozent heißt, dass der Vermieter nach 20 Jahren sein Vermögen verdoppelt hat: Er hat sein gesamtes Kapital zurück und noch immer seine Wohnung.

Liegt die Rendite über fünf Prozent, will auch das reformierte Gesetz es nicht so genau wissen. Liegt die Rendite unter fünf Prozent, bekommen DP, LSAP und Grüne von ihren Mittelschichtenwählern und der CSV die Quittung. Besagte Parteien sind sowieso überzeugt, dass ihre einheimische Stammwählerschaft durch Erbschaft und Hypothekendarlehen Eigenheimbesitzer ist. Eigenheim und Schulden machen konservativ. Also bleibt einstweilen alles beim Alten. ● Romain Hilgert.

Im Indexwarenkorb sind die Mieten mit bloß 4,86 Prozent gewichtet. So müssen die Betriebe die Löhne nicht anpassen, wenn das Mietpreisniveau steigt

Romain Hilgert
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