Brüssel warnt dringend vor Manipulation und Desinformation bei den Europawahlen am 26. Mai. Was machen die Volksparteien? Nichts!

Wir doch nicht

d'Lëtzebuerger Land vom 19.04.2019

„Im Gegensatz zu vorigen Wahlen wird es dieses Mal kein Wahlabkommen geben“. Patrick Husting, LSAP-Generalsekretär, ist formell und nennt auch gleich den Grund für den Bruch mit einer Luxemburger Tradition: „Es kostet viel Zeit und Energie, um sich parteienübergreifend auf gemeinsame Spielregeln zu verständigen. Außerdem wurde in der Vergangenheit nie kontrolliert, ob diese dann auch eingehalten wurden.“

Das war eigentlich die letzten Jahre der Minimalkonsens gewesen: Dass sich die großen politischen Parteien einen Regelkatalog geben, in dem sie sich zum Fair Play im Wahlkampf bekennen. Darin wurden ethische Leitsätze hinsichtlich Finanzierung, Werbung und Auftreten festgelegt. Seit den Parlamentswahlen 2013 war auch der Umgang mit den sozialen Netzwerken Teil des Abkommens.

Dieses Jahr also fällt die Tradition ins Wasser und das ausgerechnet jetzt, wo die Europäische Kommission angesichts der Europawahlen alle Mitgliedsländer eindringlich dazu aufgefordert hat, wachsam zu sein und mehr im Kampf gegen Fake news und Manipulation zu tun. In Brüssel geht die Angst um: Seitdem immer klarer wird, dass beim britischen Referendum zum EU-Austritt nicht alles mit rechten Dingen zuging, schrillen die Alarmglocken. „Wir haben Aktivitäten nachgewiesen, die technisch machbar waren, aber moralisch nicht vertretbar. Vor allem nicht, wenn wir unsere Demokratie wertschätzen. Denn mittlerweile ist die Bedrohung real und nicht theoretisch“, warnte Elizabeth Denham auf der Konferenz How to unmask and fight online manipulation der Europäischen Datenschutzbehörde in Brüssel vor gut zwei Monaten. Die britische Informationsbeauftragte und oberste Datenschützerin und ihr Team hatten mit Unterstützung von Whistleblowern und Wissenschaftlern, den Skandal um die Datenanalysefirma Cambridge Analytica und um die Leave-Kampagne analysiert und zahlreiche Verstöße gegen das britische Wahlgesetz sowie den Datenschutz festgestellt.

Im Mittelpunkt der Affäre: das soziale Netzwerk Facebook, das Software-Entwicklern zwischen 2007 und 2014 unrechtmäßig Zugriff auf Informationen seiner NutzerInnen gewährte. Nicht nur wussten die 300 000 Kontoinhaber nichts davon, weil sie zuvor nicht um ihr Einverständnis gefragt worden waren. Daten ihrer Facebook-Freunde wurden ebenfalls abgeschöpft und unrechtmäßig an Datenanalysefirmen weitergereicht. Diese nutzen die Informationen, um Profile zu erstellen und daraus politische Werbekampagnen maßzuschneidern. Facebook, so der Vorwurf der Datenschutzbehörde ICO, habe persönliche Daten nicht ausreichend geschützt, weil es Apps auf seiner Plattform nicht angemessen kontrolliert habe. Nach den Recherchen des ICO hatte Cambridge Analytica die Daten von über einer Million Menschen in Großbritannien gewinnen können. Die Firma arbeitete später unter anderem für das Wahlkampfteam des US-Präsidenten Donald Trump (d’Land vom 6. April 2018)

Die Europäische Kommission hat als Konsequenz einen Code of Practise zusammengestellt und an sämtliche Mitgliedstaaten verschickt, um sicherzugehen, dass sie alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um eine Beeinflussung der Wahlen zu verhindern und neben der Meinungsfreiheit gleichwohl sichere und freie Wahlen zu gewährleisten.

Eben diese Empfehlungen aus Brüssel reichte Staatsminister Xavier Bettel weiter an die Spitzen aller politischen Parteien von ADR bis Piratenpartei, nebst einem kurzen Schreiben: Auch wenn die Empfehlungen keinen verpflichtenden Charakter hätten und die politischen Parteien frei seien, zu bestimmen, welche Konsequenzen sie darauf folgen ließen, „ermutige die Regierung jede Initiative, die darauf abzielt, den freien und gerechten Charakter der Wahlen“ zu stärken, schrieb Bettel. Damit nicht genug: Parallel zur Aufforderung an die Parteien, aktiv zu werden, habe der Staat am 1. Februar ein „Netzwerk zur elektoralen Zusammenarbeit“ eingesetzt, um mittels Aktionsplan „sie direkt betreffende Elemente der Empfehlungen“ umzusetzen. Neben dem staatlichen Informatikzentrum, der Datenschutzbehörde, der Medienbeobachtungsstelle Alia, der Wahlkommission und dem Geheimdienst ist das Parlament in die Beratungen eingebunden. Ein nächstes Treffen ist für den 30. April geplant.

Die Appell an die Parteien kommt gleichwohl spät. Datum des Schreibens war der 13. Februar, da waren es bis zu den Europawahlen am 26. Mai etwas mehr als drei Monate. Die Empfehlungen der Kommission, die dem Schreiben zugrunde liegen, wurden jedoch im vergangenen September festgezurrt und an die Mitgliedstaaten geschickt. Trotzdem scheint das Thema Desinformation und Wahlkampfmanipulation hierzulande niemanden von Hocker zu reißen, geschwiege denn Anlass zu Sorge oder Betriebsamkeit zu geben. Im Gegenteil.

„Ich glaube nicht, dass in Luxemburg irgendwelche fremden Kräfte bei den Europawahlen mitmischen“, beruhigt Pascal Husting. Obschon die politischen Parteien im Wahlkampf Kontrahenten seien, die mit unterschiedlichen Programmen und Inhalten antreten, so kenne man sich doch. „Wir nutzen alle dieselben Agenturen und wissen, was sie anbieten.“ Spiele jemand im Wahlkampf faul, sei das „leicht einsehbar und nachzuvollziehen“. Husting verweist zudem auf die Selbstverpflichtung, zu der sich Facebook im Vorfeld der Europawahlen bekannt hat: Das soziale Netzwerk werde aus dem Ausland finanzierte politische Werbung unterbinden, kündigte Chef Mark Zuckerberg Ende März an. So soll in den jeweiligen EU-Staaten eine ausländische Einflussnahme auf die Abstimmung verhindert werden. Veränderungen bei der Handhabung von Wahlwerbung, neue Werkzeuge und Transparenzregeln sollen die „Integrität der Wahlen“ schützen, schrieb Facebook-Manager Richard Allen auf Twitter. Dazu zählt die Auflage, dass jeder, der Werbung mit politischen Inhalten schalten will, Identität und Standort offenlegen muss. Außerdem müsse ersichtlich sein, wer für die Anzeige bezahlt habe. Die Anzeigen sollen in einer öffentlich zugänglichen Datenbank bis zu sieben Jahre lang gespeichert werden. Das allein „müsste schon viel helfen“, ist LSAP-Generalsekretär Husting überzeugt.

Ähnlich gelassen gibt sich die Opposition. Niemand habe Interesse an einem neuen Wahlabkommen gemeldet, heißt es von Seiten der CSV. Wohl habe man ettels Brief erhalten, aber nachdem von den Regierungsparteien „kein Impuls gekommen“ sei und angesichts des Arbeitsaufwands habe man es dabei belassen. Selbst werde man kein Profiling für politische Zwecke und auch keine geheime Werbung einsetzen.

Doch politische Online-Kampagnen, darüber sind sich Datenanalysten und Aufsichtsbehörden einig, bestehen nicht nur aus schwer zuzuordnenden Werbeanzeigen. Zu schaffen machen europäischen Regulierungsbehörden Informationen und Themen, die in Netzwerken wie Facebook, Twitter, Instagram und zunehmend auch über geschlossene Whats-App-Gruppen künstlich aufgebauscht oder gefälscht werden, um Wählende in ihrer Meinungsbildung zu beeinflussen. Dabei handelt es sich um bewusst eingesetzte Verstärkereffekte: Eine falsche Information, oft mit emotionalem polarisierendem Aufhänger, um Aufmerksamkeit zu erregen, wird ins Netz gestellt. Automatisierte Bots greifen die Nachricht auf, vervielfältigen sie und verstärken dadurch ihre Reichweite. Alle(s) verbindende Glied dieser gesteuerten Kampagnen: persönliche Daten, die übers Web zusammengetragen, von Algorithmen analysiert und auf deren Grundlage bestimmte Themen und Werbungen einer Person zugeordnet werden. Für den Empfänger ist es teils sehr schwierig, zu erkennen, ob die Informationen/Inhalte stimmen und wer ihr Absender ist.

In der Facebook-Gruppe Wee2050–Nee2015, in der sich Gegner des Ausländerwahlrechts beim Referendum 2015 über Politik und Gesellschaft auslassen, finden sich auch Profile, deren persönliche FB-Newsfeeds sich aus einseitigen, verzerrten oder falschen Informationen speisen, etwa aus rechtsradikalen Medien wie die Junge Freiheit, oder von rechtspopulistischen Parteien wie die Alternative für Deutschland AfD. Das Internet kennt keine Grenzen; selbst wenn sich Parteien in Luxemburg zum Fair Play bekennen sollten, landen Ausläufer politischer Kampagnen selbstverständlich auch in den Online-Konten von Luxemburger WählerInnen. Beim Wee2050 punkten besonders emotionale Beiträge und Memes um die Themen Immigration und Kriminalität. Medienanalysten haben nachgewiesen, wie reale soziale Phänomene virtuell beeinflusst werden. So die Protestbewegung der Gilets jaunes in Frankreich: Ein signifikanter Anteil der ihnen zugeordneten Debattenbeiträge kam über Kanäle von Russia Today. Am 23. April sollen Facebook und Twitter berichten, inwiefern sie ihrer Selbstverpflichtung nachkommen. Die Ankündigung Zuckerbergs, sich für freie und integere Wahlen einzusetzen, ist vor allem auf den ständig wachsenden Druck auf den Konzern zurückzuführen, endlich gegen die Flut an Falschinformationen und manipulative politische Werbung vorzugehen.

Was Youtube-Videos, politisches E-Mailing, Memes und Werbung verbindet, ist, dass mit dem Anklicken solcher Inhalte die Nutzer vermeintliche Vorlieben preisgeben und sie ein bestimmtes Profil bestätigen, das sich ständig perpetuiert. So entsteht die berühmte Echokammer, in der Nutzer solche Inhalte erhalten und konsumieren, die (vermeintlich) ins Weltbild passen. Oder wie es Elisabeth Denham ausdrückt: „Personenbezogene Daten sind der Faden, der alle diese Themen verbinden.“ (Meinungsfreiheit, Schutz der Privatsphäre und freie demokratische Wahlen, die Redaktion). Ihr Blick in die Zukunft ist ein düsterer: „Diese große Welle von Datenanalysen, mit der Möglichkeit Wahlen zu beeinflussen, wird schon bald zu einem Tsunami heranwachsen. Dringende Aktion tut Not, um den Herausforderungen zu begegnen.“

EU-Länder, wie Lettland oder Spanien, haben deshalb begonnen, die sozialen Netzwerke mit Hilfe von JournalistInnen, BürgerInnen und NGOs zu beobachten, um rechtzeitig zu erkennen, ob Themen künstlich gepusht werden oder andere Einflüsse im Wahlkampf bestehen. In Luxemburg gibt es bislang keine solche staatlich unterstützten Monitoring-Initiativen. Die Beobachtungsstelle Alia hätte, selbst wenn sie es wollte, nicht ausreichend Personal dafür. Groß scheint aber auch dort die Unruhe nicht zu sein: Romain Kohn von der Alia glaubt nicht an eine Beeinflussung der Europawahlen im Großherzogtum. Luxemburg sei „nunmal grundsätzlich pro-europäisch“, so Kohn.

Ines Kurschat
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