Wiedereröffnung der Kaiserlichen Kunstkammer in Wien

Lizenz zum Wunder(n)

d'Lëtzebuerger Land du 17.05.2013

Das ist ein Museum! Begeistert stemmt der Fünfjährige seine Schatzkiste, hockt sich auf den Spielteppich, schüttet sie aus. Was da alles aus dem Sperrholz purzelt, was sich da alles angesammelt hat, in fünf Sommern, fünf Wintern, an Geburtstagen, bei Verwandtenbesuchen, Waldspaziergängen, an fünf mal 365 langen, bunten Kinderlebenstagen: ein altes Handy, ein defektes Fahrradventil, Stoffreste, bunte Steine, krumme Nägel, ein verklebtes Bonbon, ein zerfetzter Luftballon, glänzende Murmeln, ein Plastikkompass, abgebrochene Tierfiguren, eine Handvoll Ritter, Piraten oder Außerirdischer, ungültige Münzen.

Ein Haufen Krempel, sagt unsereins, das Kind aber hockt selbstvergessen da und wühlt, fühlt, staunt; ganz Glück, ganz Spiel, ganz Begreifen und Entdecken. Aber wir sind nicht mehr fünf, unsere Schatzkiste liegt auf der Bank, und deshalb gehen wir, wollen wir uns wundern und begeistern, ins Museum. Ins Kunsthistorische Museum. In Wien. Und dort in die Kunstkammer.

Mehr als zehn Jahre lang war sie geschlossen, die Urmutter der Museen, hervorgegangen aus den Kunst- und Wunderkammern der Habsburger, eine Sammlung des Seltenen und Außergewöhnlichen, die den Zeitraum vom späten Mittelalter bis zur Barockzeit umspannt und sakrale Kunst ebenso umfasst wie Messinstrumente, Schmuck, Automaten, Tapisserien, Statuen und Dekor. Seit März ist sie wieder zugänglich, die begehbare Schatzkiste der Habsburger, als Museum im Museum, mit über 2 200 Objekten in 20 Räumen.

Angelegt als private Sammlung von Kostbarkeiten der adeligen Familie, sollten die Sammlungen an Artefakten, Kuriositäten, Naturalia und Exotica, an kunstvollen Goldschmiedearbeiten, Bronze-Statuen, Tafeldekor und Schmuck allein Auge und Herz erfreuen – und den materiellen Reichtum der Besitzer illustrieren. Zweckfreiheit war Grundprinzip. Entstanden ist so ein Jahrhunderte umspannendes Sammelsurium an Kostbarkeiten, die mit edlen Materialien prunken und vor allem sich selbst huldigen.

Als gleichsam Meta-Museum ist die neugestaltete Kunstkammer nun eine begehbare kulturphilosophische Lektion, die in Gold, Silber und Elfenbein den Menschen als „homo ludens“ definiert und in vielfachen Formen und Ausprägungen dekliniert, wofür Friedrich Schiller die Worte fand: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

So spielerisch kommt Kunst im Museum selten daher und verbindet dabei noch Disziplinen und Weltbilder: Da vereint ein kleines, goldenes Igelchen zum Beispiel wissenschaftliche Präzision, Ästhetik und Repräsentation. Denn das wertvolle, mit Edelsteinsplittern versetzte Tier ist nicht nur hübsches Objekt, sondern gleichzeitig ein Ring, und birgt in seinem Inneren zudem noch eine Sonnenuhr. Ein kleiner Bär, erst auf den fünften Blick als Gefäß zu erkennen, stellt die Dinge auf den Kopf, lässt sich nicht länger jagen sondern legt selbst die rubinbesetzte Flinte an und zielt: nehmt euch in acht, ihr Jäger!

Und das bekannteste Salzfass der Kunstgeschichte, die einst einem spektakulärem Raub zum Opfer gefallene Goldschmiedearbeit „Saliera“ des Renaissance-Künstlers Benvenuto Cellini, erklärt in anmutig allegorischer Darstellung von Tellus und Neptun gleich die ganze Welt als Einheit von Gegensätzen. Als äußerst ergiebig für Auge und Kopf zeigt sich schon allein die umfangreiche Sammlung von naturwissenschaftlichen Messgeräten Rudolfs II, der an seinem Prager Hof die Disziplinen Mathematik und Astronomie mit Uhrmachern zusammenbringt und so zum Entstehen von Kleinodien der Feinmechanik beiträgt.

Jedes einzelne Stück aus der Fülle der Sammlungen, die als Spiegelbild des Kosmos fungieren sollten, erzählt eine Geschichte von der Kunstfertigkeit des Menschen, von Schöpfungswille und Ideenreichtum, vom Versuch, die Welt und was über sie hinausgeht zu begreifen, nachzubilden, darzustellen. Im Zeitalter der Massenproduktion macht diese überbordende Fülle auch Staunen vor dem Zauber des Originals.

Ein schöner Kritikerstreit lässt sich erkennen darüber, ob die in Wien übermäßig gehypte Wiedereröffnung, ob die Neuaufstellung, Ordnung, Neuorganisation und also Kategorisierung den Geist der Sammlung zur Geltung bringe oder zerstöre. Salomonisch wäre das Urteil, die Kuratoren hätten, was sie als Kuratoren tun müssen, sorgfältig, kenntnisreich und – ja, auch das geht – mit Witz umgesetzt. Kapitel geschaffen und Saalthemen entwickelt wie „Abbild göttlichen Glanzes“ oder „Sinnbilder fürstlicher Pracht“.

Hätten über die ausgestellten Objekte auch die Kulturgeschichte des Sammelns erzählt und die unterschiedlichen Intentionen und Interessen der Sammelnden herausgestellt. Hätten „Saalregenten“ platziert, prägnante Objekte, die das jeweilige Thema illustrieren, und dabei die Epochen in ihrer politischen und kulturhistorischen Dimension beschreiben. Hätten also getan, was möglich ist und sinnvoll, um das Füllhorn maßvoll auszugießen und den Betrachter nicht zu überfordern.

Das Andere darf man sich nur denken: All die Schätze, Schätzchen, Scherze, Kostbarkeiten und Spielereien in einer großen Kiste, die der Besucher in die Hand bekommt. Und dann darf er sie mit zu sich nehmen, ausschütten, sich mitten hineinsetzen in die Herrlichkeit, auskosten die Lust der Fülle und schauen, fühlen, tasten, greifen. Unbeobachtet. Voraussetzungslos. Endlos. Das wäre ein Museum!

Kunstkammer im Kunsthistorischen Museum Wien; Maria-Theresien-Platz, 1010 Wien; geöffnet Dienstag bis Sonntag von 10.00 – 18.00 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr; www.khm.at/besuchen/sammlungen/kunstkammer-wien.
Irmgard Rieger
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