Sensationen

Ratte oder Königin?

d'Lëtzebuerger Land vom 30.03.2012

Heute loben wir die volkserschütternden Sensationen. Wenn binnen einer Woche fast zeitgleich zwei schwerwiegende Ereignisse unser Land heimsuchen, fällt es nicht leicht, das Gewicht der Schlagzeilen zu bestimmen. Was hat uns stärker mitgenommen? Die Ratten in einer hauptstädtischen Schule, oder die holländische Königin auf Staatsbesuch? Was ging uns heftiger auf den Geist? Die Rebellion der bestialischen Underground-Fraktion, oder die entfesselte Monarchie?

Wenn in einer Schule plötzlich die Ratten an die frische Luft wollen, liegen die Beweggründe eigentlich auf der Hand. Als die Grundschule noch „Primärschule“ hieß, verhielten sich auch die Ratten primär. Das heißt, sie hatten überhaupt keine Lust, ihre finsteren Verstecke zu verlassen. Jetzt, da die Schule mit reformerischem Eifer in „école fondamentale“ umbenannt wurde, überkommen auch die Ratten fundamentale Gelüste. Wahrscheinlich möchten sie ganz einfach nur ihre Rattenkompetenz vorführen. Sie beißen sich durch, was man ja von den lieben Kleinen nicht mehr verlangt.

„Die Kinder träumen nachts von den Ratten“, erzählte die besorgte Schulschöffin im Fernsehen. Dafür müssten wir eigentlich den Ratten auf die pelzigen Schultern klopfen. Denn gewöhnlich träumen die Kinder nachts von blutrünstigen Monstern, mordenden Warlords, frenetischem Schlachtgetümmel und Kettensägenmassakern, also dem ganzen brutalen Angebot aus ihren Videospielen, und nicht etwa von harmlosen Nagern. Daraus schließen wir, dass Ratten gut sind für Kinder und deren Manieren positiv beeinflussen, jedenfalls des Nachts über dem Träumen.

„Die Erzieher müssen das jetzt in den Griff bekommen“, forderte die Schulschöffin. Ratten in den Griff bekommen? Das sollte die Dame mal kurz vormachen. Ist die Ratte nicht ein Lebewesen, das mit der naturverbundenen Philosophie des grünen Koali-tionspartners höchst vereinbar ist? Wir würden sagen: Die Ratte gehört unbedingt auf den Lehrplan. Sie geht immerhin freiwillig zur Schule. Leider handelte es sich hier um asbesthaltige Ratten, also ziemlich abartige Vertreter ihrer Gattung. Darum wird die Rattenschule jetzt abgerissen. So schade ist das auch wieder nicht. Sie war schon ziemlich baufällig. Ausgehöhlt von der Schulreform.

Die holländische Königin hatte Glück. Ein Besuch der Rattenschule stand nicht auf ihrem Programm. Hätte sie sich nämlich in die pädagogischen Gefilde der Aloyse-Kayser-Straße hinein gewagt, wäre es zum Debakel gekommen. Ratten haben eine herausragende, aber leider völlig destruktive Eigenschaft: Hüte auf den Köpfen von Monarchinnen machen sie wahnsinnig. Sobald sie einen königlichen Hut wittern, flippen sie regelrecht aus, nein, sie drehen komplett durch, sie attackieren sofort den Hut mitsamt Monarchin und bringen binnen Sekunden das gesamte Königreich ins Wanken.

Wieso Ratten blindwütig ausgerechnet nach den Hüten von Monarchinnen schnappen, haben die Naturwissenschaften noch nicht restlos erörtert. Pieter Wisteldijk von der Universität Eindhoven schreibt: „Das kanalreiche Holland ist die bevorzugte Heimstatt der Ratten. Man könnte sogar sagen: Holland ist ein konstitutioneller Rattenstaat. An allen großen Leistungen der holländischen Gesellschaft sind die Ratten maßgeblich beteiligt, am Deichbau, an der Trockenlegung der Polder, sogar an der vielfältigen Käsefabrikation. Die Ratten sind sozusagen die proletarische Grundlage der niederländischen Nation. Ihr antiautoritäres Naturell ist bekannt, ihre Aristokratiefeindlichkeit auch.“

All das ist natürlich eine Art Staatsgeheimnis. Wahrscheinlich war hierzulande kein Mensch im Bild, wie sehr ausländische Monarchen auch durch inländische Ratten gefährdet sind. Den Ratten aus der Aloyse-Kayser-Schule ist durchaus zuzutrauen, dass sie nur ans Tageslicht drängten, um der holländischen Königin aufzulauern. Und ihr reißerisch an den Hut zu fahren. Ratten fressen im Prinzip keine Kinder. Aber sie haben schon viele Monarchen zerstückelt. Wie gesagt: Die holländische Königin hatte Glück.

Bleibt nur noch eine Frage: Wieso trägt diese holländische Monarchin fast jede halbe Stunde einen anderen Hut auf ihrem holden Kopf? Lauter Gebilde wie aus der Schrottpresse hervor gezaubert? Darunter auch ein Exemplar, das sogar die diplomierte Hofschranze Peter Von und Zu Dillenburg im Rundfunk sehr despektierlich als „bal eppes wéi e Gebuertsdaagskuch“ bezeichnete? Wie viele Hüte hat diese Frau eigentlich in ihrem Besitz? Geht ihr so oft der Hut hoch? Ja, das könnte sein. Als sie nämlich in Luxemburg weilte, hat das niederländische Parlament sie kurzerhand entmachtet. Sie darf jetzt nicht mehr über die Regierungsbildung mitbestimmen. Vor Wut soll sie 345 Hüte zerrissen haben. Das macht aber nichts. Sie hat noch jede Menge.

Am Ende jener sensationsreichen Woche verzeichnen wir also: 1) eine abgerissene Grundschule, 2) eine demolierte Königin. Das haben wir versucht, unter einen Hut zu bringen. Staatsbesuche sind wertvoll, nützlich und schön. Nicht nur für Ratten.

Guy Rewenig
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