Kann man von einer Wiederauferstehung sprechen, wenn jemand nie weg gewesen ist? Der mittlerweile 67-jährige Sänger Nick Cave hat am 30. August dieses Jahres mit Wild God ein zuversichtliches Album veröffentlicht, das allerdings eine Weile und geduldiges, mehrfaches Hören benötigte, um seine spirituelle Kraft in voller Wucht zu entfalten. Genauer gesagt, es brauchte vielleicht die dazugehörige Tournee der Bad Seeds von September bis November 2024, um das neue Album feierlich zum Leben zu erwecken.
Schließlich ist es auch für Nick Cave keine Selbstverständlichkeit, mit fast ausschließlich neuen Balladen Abend für Abend in kalten Multifunktions-Arenen ein 10-20 000 köpfiges Konzertpublikum zu erreichen und – an fokussierten, gesegneten Abenden wie in Belgrad oder Paris – zu Begeisterungsstürmen mitzureißen. Auf gigantischen LED-Wänden wurden Schlüsselzeilen aus den neuen Songs synchron zur Performance visuell in die Hallen geworfen, sodass der lyrische Spannungsbogen des Albums – er erstreckt sich in Zen-Manier von der Wertschätzung des Augenblicks bis zur christlichen Vergebung der eigenen Sünden – sich auch jenen erschloss, denen Wild God noch nicht geläufig gewesen sein mochte. Der prominenteste Besucher der Tour, Bob Dylan, schrieb auf X über seinen Besuch des Abschlusskonzertes am 19. November in Paris: I was really struck by that song Joy where he sings ‘We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy.’ I was thinking to myself, yeah that’s about right.”
Tatsächlich ist die Wiederauferstehung des Sängers Nick Cave in diesem Song Joy zu suchen und zu finden, in welchem es nicht zum ersten Mal um den tragischen Unfalltod seines Sohns Arthur im Jahr 2015 geht. In seiner Überschreibung des Songs I Had the Blues this Mornin’ von Son House zu Joy scheint Nick Cave lyrisch einen Kreis der Trauer erfolgreich abgeschlossen zu haben, der von der These (dem Unfalltod des Kindes) über die Gegenthese (die Trauer) zur Synthese (Wild God oder: der Optimismus) führt.
Bezeichnenderweise bediente sich Nick Cave im Falle des Songs Joy einer Kompositionsmethode, die zwar nicht neu ist, die aber auf prominente Weise kurz zuvor, 2020, auch von – eben – Bob Dylan in dem Song Murder Most Foul angewandt wurde: Über eine stehende, ohne Beat auskommende und die übliche Songstruktur aus Strophe, Refrain und Bridge ignorierende Klangsymphonie aus Klavier, Elektronika und Gospelchor singt Nick Cave in Demut “I woke up this morning with the blues all around my head / I felt like someone in my family was dead”, aber eben auch: “We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy”.
Auf Wild God ist in jedem Song und in jeder Zeile eine schwer erarbeitete Zuversicht zu spüren, die sich der aus den Fugen geratenen Zeit voller Schicksalsschläge entgegenstemmt, explizit auch in einem spirituellen, katholisch-religiösen Sinne. Fast droht in all diesem Flehen und Vergeben unterzugehen, dass in den Zeitraum, in dem Wild God entstand, auch die Tode seiner einstigen Freundin Anita Lane (2021) und seines Sohnes Jethro (2022) fielen. Anita Lane, die 1984 selbst Mitglied der Bad Seeds gewesen ist, hat Cave nun mit Wow O Wow (How Wonderful She Is) eine Ballade gewidmet, deren Melodie lose, aber umso berührender auf Sometimes it Snows in April von Prince aufgebaut ist – ist es ein Zufall, dass Anita Lane in einem April gestorben ist?
Ungeachtet all dessen ist es an der Zeit, der fast schon als Lebenswerk zu bezeichnenden Leistung Tribut zu zollen, dass sich die Bad Seeds in immer neuen Inkarnationen und in unterschiedlichsten Besetzungen seit 1983 einen eigenen Sound bewahrt haben. Bestes Beispiel: Auf Wild God spielt Ur-Bad-Seed Thomas Wydler zum ersten Mal seit Langem wieder Schlagzeug. Live wird der von gesundheitlichen Beschwerden geplagte Wydler seit geraumer Zeit von Jim Sclavunos vertreten, einem anderen langjährigen Bad Seed. Man muss beim Konzert genau hinschauen, um zu hören, dass Wydler fehlt. Zum anderen ist die Rolle von Warren Ellis hervorzuheben. Der Geiger, Gitarrist und Komponist der australischen Instrumentalband The Dirty Three ist seit 2007, als er gemeinsam mit Nick Cave zunächst mit der Band Grinderman und 2013 dann auf Push the Sky Away der neue Bandleader der Bad Seeds. Es ist eine Art Wachablösung in dieser langlebigen Band, als Ellis das Ruder von Mick Harvey übernahm, dessen Geschichte zurückreicht bis in die späten 1970er Jahre und die glorreichen Jahre der Birthday Party. Seit Harveys Weggang sind Ellis und Cave das maßgebliche, wenn nicht alleinige Songwriting-Duo der Bad Seeds.
Wild God markiert nun den dritten und letzten Teil einer langen Seelenreise durch den existenziellen Schmerz, die mit dem erschütternden Skeleton Tree 2016 begann und auf das drei Jahre später, 2019, das fast ohne Beats auskommende Ghosteen folgte. Im gleichen Zeitraum ging Cave, der seit dem Trauerfall kein Interview mehr gegeben hatte, mit dem Programm Conversations with Nick Cave auf Tour, in welchem ihm Zuschauer live Fragen stellen konnte – und die er auch vor Publikum beantwortete. 2022 erschien das gemeinsam mit Sean O’Hagan editierte Interviewbuch Faith, Hope and Carnage. Beide Textformate waren performative bzw. literarische Fortführungen einer seelischen Entblößung, die Cave 2018 mit den The Red Hand Files, einem Online-Gesprächsformat, in welchem Cave auf die persönlichsten, intimsten Fragen seiner Fans empathisch und aufrichtig antwortete. Mitunter waren die Antworten so ausführlich wie in einem Essay, gemäß des selbst ausgerufenen Credos der Website: “You can ask me anything. There will be no moderator. This will be between you and me. Let’s see what happens.”
Und während Nick Cave parallel auf seinen immer größeren Konzerten vor immer riesigeren Menschenmassen die Rolle eines Priesters wie in einem Gospel-Gottesdienst (mit Gospelchor) einzunehmen begann, der zu seinen Jüngern spricht, sich von ihnen anfassen und umarmen lässt, unterzog sich der Sänger mit diesem in der Pop- und Rock-Geschichte bis heute einzigartig entblößenden Dialog einer Art schonungslosen Psychotherapie mit offenem Ende. In seinem mutigen Vorgehen begann er zunehmend einem Todgeweihten, einem Dead Man Walking, zu gleichen, der die letzten Jahre, Monate, Tage vor seinem vorausgesagten irdischen Tod die Dinge zu sortieren und zu ordnen sucht, um eine saubere Übergabe an die Nachwelt sicherzustellen.
In diesem göttlichen Licht also muss das Album Wild God gesehen werden. Denn hier singt ein Sänger in dem Wissen, dass seine Worte Seelen trösten können, das hat er aus der Auseinandersetzung mit seinen Fans gelernt, die ihrerseits bereit waren, ihre innersten Ängste und ihre tiefste Trauer mit dem Sänger hemmungslos zu teilen. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die Red Hand Files als Buch, quasi als Bibelersatz, veröffentlicht werden. Bis dahin gilt das Glaubensbekenntnis: Hier geht ein Wiederauferstandener aus der Dunkelheit ins Licht, vom Zweifel in die Zuversicht, vom Sarkasmus in den Optimismus. Und wenn zwei Handvoll Songs eine solche Katharsis zu vermitteln vermögen, dann handelt es sich bei dem dazugehörigen Album wohl um ein transzendierendes, grandioses Alterswerk der Versöhnung und mit Sicherheit um eines der Alben des gerade ausgeklungenen Jahres. Wer hätte das vor ein paar Jahren für möglich gehalten?