Am 1. Mai mussten die Parteien sich zum ersten Mal im Superwahljahr positionieren. Drei der vier Spitzenkandidat/innen zogen den LCGB dem OGBL vor. Aus dieser Symbolik zu schließen, dass es im Oktober zu einem Rechtsruck kommen wird, ist vielleicht noch verfrüht

Politisches Stelldichein près de la piscine

LCGB-Generalsekretär Francis Lomel, Patrick Dury, Georges Engel, Yuriko Backes
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 05.05.2023

120 Jahre Vor 133 Jahren fand in Luxemburg die erste Kundgebung zum internationalen Tag der Arbeit statt. Seit 120 Jahren wird die 1. Mai-Feier ununterbrochen begangen (außer während der deutschen Besatzung). Dieses Jahr ist ein besonderes, denn im Juni sind Gemeindewahlen, im Oktober Kammerwahlen und Anfang nächsten Jahres Sozialwahlen. Die national repräsentativen Gewerkschaften OGBL und LCGB sind auch wichtige politische Akteure. Traditionell stehen sie den beiden großen Volksparteien LSAP und CSV nahe. Im vergangenen Jahr hatten die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und ihren alliierten Parteien etwas gelitten. Dadurch haben sich neue Opportunitäten ergeben.

Anders als der LCGB (und die CGFP, die den 1. Mai nicht feiert) hatte der OGBL das Tripartite-Abkommen im März 2022 wegen der Verschiebung der Index-Tranche vom Juli 2022 auf April 2023 nicht unterzeichnet und war in die „Opposition“ gegangen. Er hatte sich von der LSAP abgewandt und sich mit Déi Lénk verbündet. Am 1. Mai organisierte er einen Protestmarsch, seine Präsidentin Nora Back verurteilte die „tiefgreifende Indexmanipulation“, fast alle Regierungsmitglieder blieben der Kundgebung fern – mit Ausnahme des sozialistischen Arbeitsministers Georges Engel, der mit Personenschutz kam. Der gemäßigte LCGB wurde zur Lieblingsgewerkschaft der Regierung: Premierminister Xavier Bettel von der arbeitgebernahen DP stattete ihr am 1. Mai einen Überraschungsbesuch ab; seine Parteikolleginnen, Finanzministerin Yuriko Backes und Familienministerin Corinne Cahen, ebenfalls. Selbst die sozialistische Vize-Premierministerin Paulette Lenert zog es vor, zum LCGB-Fest in ihrer Wohngemeinde Remich zu gehen, anstatt zum OGBL ins Neimënster zu fahren. Die Oppositionspartei CSV war insbesondere über den Besuch von Xavier Bettel nicht erfreut, der ihrem Parteipräsidenten Claude Wiseler und den anderen CSV-Abgeordneten die Show stahl. Es schien, als hätten die politischen Fronten sich verschoben.

Spätestens nach der letzten Tripartite vom März 2023 haben die Beziehungen zwischen OGBL und LSAP sich im Superwahljahr 2023 wieder normalisiert. Das wurde am Montag deutlich. Wesentlich mehr Sozialist/innen als im Vorjahr waren zum Fest der Arbeit und Kulturen ins Neimënster gekommen. Neben dem Arbeitsminister (ohne Personenschutz) ließen auch Sozialminister Claude Haagen und sogar die Vizepremierministerin und designierte Spitzenkandidatin Paulette Lenert sich blicken. Am 1. Mai veröffentlichte die LSAP auf Youtube ein Video, in dem Georges Engel und OGBL-Präsidentin Nora Back 43 Minuten lang über die Vorzüge einer Arbeitszeitverkürzung plaudern. Auch von den Grünen waren einige gekommen, darunter Energieminister Claude Turmes, Fraktionspräsidentin Josée Lorsché, der Stater Bürgermeisterkandidat François Benoy und Ko-Parteipräsident Meris Sehovic. DP und CSV blieben fern.

Anders beim LCGB, wo sämtliche großen Parteien um die Gunst des Präsidenten Patrick Dury buhlten. Und um die des CSV-Spitzenkandidaten Luc Frieden. Die CSV-Abgeordneten waren beim LCGB wie gewohnt in der Mehrheit, doch die DP hatte auch in diesem Jahr ihren Premierminister und Spitzenkandidaten Xavier Bettel, die Minister/innen Yuriko Backes, Corinne Cahen und Lex Delles sowie mehrere Abgeordnete nach Remich entsandt. Auch die grünen Regierungsmitglieder François Bausch, Henri Kox, Claude Turmes und Spitzenkandidatin Sam Tanson waren gekommen. Gemeinsam posierten sie mit Patrick Dury für ein Gruppenbild. Nicht auf dem Foto sind die sozialistische Spitzenkandidatin Paulette Lenert und Arbeitsminister Georges Engel, doch auch sie waren beim LCGB. Überraschend war, dass so viele (größtenteils nicht als gewerkschaftsfreundlich bekannte) Hauptstadtpolitiker/innen wie Lydie Polfer, Laurent Mosar, Serge Wilmes, Paul Galles und Elisabeth Margue den weiten Weg an die Mosel auf sich nahmen. Vielleicht war der Andrang beim LCGB nur deshalb so groß, weil der Proufdag der Vinsmoselle in Remerschen für alle Kandidat/innen mit Rang und Namen ein Pflichttermin ist und es von dort aus nicht weit bis nach Remich ist.

Isoliert Es hatte aber vor allem politische Gründe. Der OGBL brüstete sich am Montag zum wiederholten Mal damit, dass dank seines Widerstands der Indexmechanismus im Dezember wiederhergestellt wurde. Diese Erzählung war bereits Teil der Öffentlichkeitskampagne, die die Gewerkschaft seit Februar im Hinblick auf die Sozialwahlen führt. Sie geht so: Wegen seiner Verweigerung, das Tripartite-Abkommen zu unterzeichnen, sei der OGBL „von allen Seiten“ angegriffen und als isoliert dargestellt worden. Doch „isoléiert waren déi, déi mengen si wieren all an engem Boot an déi dunn op engem waarme Stull an engem Schlass d’Indexmanipulatioun beschloss hunn“, skandierte seine Präsidentin Nora Back in ihrer Ansprache am Tag der Arbeit. Aus dieser „harten Zeit“ sei der OGBL nach der letzten Tripartite gestärkt hervorgegangen.

LCGB-Präsident Patrick Dury ging in seiner Ansprache im Festzelt „près de la piscine“ (wie es in der Einladung hieß) in Remich nicht auf die Tripartite vom März 2022 ein, sondern lediglich auf die beiden letzten. Im September einigten Regierung und Sozialpartner sich auf den Energiepreisdeckel, im März verlängerten sie ihn und beschlossen eine teilweise Anpassung der Steuertabelle an die Inflation. Das sei das Verdienst des LCGB gewesen, sagte Dury.

Traditionell steht der LCGB ideologisch weit weniger links als der OGBL. Während OGBL-Präsidentin Nora Back am 1. Mai die Solidarität ihrer Gewerkschaft mit der französischen Intersyndicale im Kampf gegen Macrons Rentenreform bekundete und das Patronat vor Angriffen auf das luxemburgische Rentensystem warnte, ignorierte Patrick Dury den Sozialkampf im Nachbarland. Er rügte stattdessen den russischen Präsidenten Putin, der „eis Demokratie, eis oppe Gesellschaft ënnerwanderen a futti maachen“ wolle, und wetterte gegen die „neoliberal a bornéiert“ EU-Kommission von Ursula von der Leyen, die im Gegensatz zur Juncker-Kommission die europäischen Arbeitsplätze ruiniere und die Existenz der Beschäftigten in Frage stelle. Durys Aussage, „et rächt sech also, wann an der EU keng europäesch Spëtzepolitiker mat deenen néidege sozialen an europäeschen Iwwerzeegungen, mee ofgehalftert Politiker aus der zweeter oder drëtter Rei op Responsabilitéitsposte gesat ginn“, kann auch als Seitenhieb auf den luxemburgischen EU-Kommissar und früheren LSAP-Arbeitsminister Nicolas Schmit gedeutet werden.

Lean Management Die Gesundheitspolitik von Paulette Lenert kritisierte Dury mit Begriffen wie „Planwirtschaft“ und „sozialistesch Ideologien“ und befürwortete wie AMMD und CSV „e Fonctionnement, dee sech éischter um Privatsecteur orientéiert, wat de ‚lean management‘ ugeet“. Nora Back sprach sich hingegen für eine Stärkung und den Ausbau des „ëffentlechen, solidaresch finanzéierte Gesondheetssystem“ aus.

Grundlegende Unterschiede zwischen den beiden großen Gewerkschaften finden sich auch in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung. Während der OGBL dem Patronat vorwirft, „Katastrophismus“ und Panikmache hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung zu betreiben, daran erinnert, dass Luxemburg sich nicht in einer Rezession befindet und der Stellenabbau bei Dupont Teijin und Husky aus Gründen der Profitmaximierung beschlossen worden sei, stimmt der LCGB in den Chor der Schwarzmaler mit ein, warnt vor dem „perfekte Stuerm an der Ekonomie“ und fordert eine neue Wirtschaftspolitik, „déi et fäerdeg bréngt, datt um Standuert Lëtzebuerg nei Aarbechtsplazen entstinn“. LSAP-Wirtschaftsminister Franz Fayot feierte den 1. Mai nicht mit einer Gewerkschaft, verschickte aber eine Botschaft, in der er „de Lëtzebuerger Sozial-modell“ preist.

Ausführliche Kritik äußerte Dury auch an der Wohnungsbaupolitik des grünen Ministers Henri Kox, der in seinen Gesetzentwürfen nicht die richtigen Akzente gesetzt habe, um das Angebot an Wohnungen massiv zu erhöhen. Wegen steigender Zinsen sei nicht ausgeschlossen, dass viele Bürger/innen und Gesellschaften ihr Vermögen verkaufen müssten: „Domadder wäerten dann, erëm eng Kéier, Spekulanten a Profiteuren sech fir wéineg Geld um Misär vun de Leit enorm beräicheren“, meinte der LCGB-Präsident und schlussfolgerte daraus, „datt wann Politik géint Spekulatioun am Logement wollt virgoen, mir haut dann de Contraire erreecht hunn“. Nora Back monierte ihrerseits, „Regierungen u Regierunge(n)“ hätten im Wohnungsbau versagt, weil sie es nicht geschafft hätten, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, die Mietpreise zu bremsen und Spekulanten zur Kasse zu bitten.

Anders als der LCGB wiederholte der OGBL seine Forderung nach einer gerechten Steuerpolitik, „wou een endlech eng Ëmverdeelung vun uewen no ënne ka maachen“, und sprach sich unmissverständlich für eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung aus. Beide Themen waren in den vergangenen Monaten von der LSAP auf die politische Agenda gesetzt worden. Zumindest in Steuerfragen hatte sie Unterstützung von den Grünen erhalten und zum Teil auch von CSV-Ko-Fraktionspräsident Gilles Roth. Auf den Klimaschutz und die Energiewende gingen beide Gewerkschaftspräsident/innen nur am Rande ein.

Rechtsbündnis In Anbetracht all dessen überrascht es, dass ausgerechnet die Spitzenkandidatin und der Vizepremierminister der Grünen am 1. Mai mit dem Auto zum LCGB und nicht mit dem Fahrrad zum OGBL fuhren. François Bausch, der noch immer Mitglied des Landesverbands ist, begründete diese Entscheidung gegenüber dem Land mit fadenscheinigen Argumenten: Der LCGB habe ihn zuerst eingeladen (LCGB-Generalsekretär Christophe Knebeler sagte auf Nachfrage, kein Politiker sei eingeladen worden) und er habe gedacht, der OGBL würde nur ein Familienfest ohne politische Ansprache organisieren. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Grünen sich mit Sam Tanson in ihrer Grundausrichtung noch weiter nach rechts bewegen und signalisieren wollten, dass sie bereit sind, im Oktober eine Koalition mit Luc Frieden und Xavier Bettel einzugehen. Im Wahlkampf haben DP und CSV in gesundheits-, sicherheits- und steuerpolitischen Fragen jedenfalls schon Übereinstimmungspunkte gefunden. In der Klimapolitik vielleicht auch. Vereint hat sie die Ablehnung der von der LSAP gewünschten allgemeinen Arbeitszeitverkürzung. Sollten sie im Oktober einen Koalitionspartner brauchen (was nach den letzten Umfrageergebnissen der Fall wäre), wären die Grünen neben den farb-, geruch- und geschmacklosen Piraten vielleicht eine Option. Für LSAP und Grüne alleine wird es nicht für eine Mehrheit reichen, für Rot-Rot-Grün ebenfalls nicht – einmal davon abgesehen, dass sowohl Tanson als auch Paulette Lenert schon ein Bündnis mit der am Montag beim OGBL zahlreich vertretenen Linken formell ausgeschlossen haben.

Selbst wenn sich alleine aus der Teilnahme an Gewerkschaftsfeiern keine Koalitionsaussagen ableiten lassen, hat der Tag der Arbeit verdeutlicht, wie sich die unterschiedlichen Parteien politisch positionieren und wo ihre Prioritäten liegen. LSAP und OGBL haben im Wahlkampf wieder zusammengefunden und dürften sich in den nächsten Monaten gegenseitig unterstützen. Der LCGB hat nun offensichtlich ranghohe Anhänger/innen nicht nur in der CSV, sondern auch in der DP und neuerdings ebenfalls bei den Grünen. Ob die Liebe tatsächlich auf Gegenseitigkeit beruht, muss sich noch zeigen. Am Mittwoch läutete der LCGB auf einem Conseil Syndical in Remich – mit François Bausch als Ehrengast – seine Kampagne für die Sozialwahlen ein. Die auf seiner Homepage veröffentlichten Forderungen, die Patrick Dury am Montag in seiner Ansprache nur kurz anschnitt, sind konkreter und teilweise „radikaler“ als die Aussagen im politischen Teil seiner Rede. Die DP und die „neue“ CSV mit ihrem banken- und wirtschaftsnahen Spitzenkandidaten werden sich wohl kaum für die generelle Beteiligung der Beschäftigten an Firmengewinnen, das Festhalten an unbefristeten Arbeitsverträgen als Regelverträge, die Umverteilung der Produktivitätsgewinne durch Arbeitszeitverkürzung und neue Tarifverträge im Einzelhandel und in der Logistikbranche stark machen. Sie werden auch keine Politik betreiben, „déi Resident a Frontalier hei am Land nach méi zesummeféiert“, und dürften kaum Interesse daran haben, die Wahlpflicht auf alle Einwohner/innen Luxemburgs auszudehnen. Und schon gar nicht werden sie sich für die gerechte Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums, die Stärkung der Instrumente zur Beschäftigungssicherung und einen besseren Schutz vor Entlassungen einsetzen. Dem LCGB dürfte das egal sein. Schließlich ist auch für ihn Wahlkampf. Und da muss er sich nicht mit der DP, der CSV, der LSAP oder den Grünen messen, sondern vor allem mit dem OGBL. Der ist trotz oder gerade wegen seiner linken Ausrichtung sowohl in den Betrieben als auch in der Salariatskammer bei weitem die stärkste Gewerkschaft.

Luc Laboulle
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