Mit Anatevka spielt das Grand Théâtre das Musical Fiddler on the Roof,
inszeniert von Gil Mehmert, und bereichert damit die Bühnenwelt nicht um Nuancen

Alte Bilder des jüdischen Schtetl

d'Lëtzebuerger Land vom 08.03.2024

„Tradition. Tradition!“, singen die Männer anfangs und stampfen dazu energisch auf den Boden. „Wir tragen alle einen Gebetsschal als Zeichen unserer Gottesergebenheit“, erklärt der Milchmann Tevje, während seine Töchter um einen Tisch sitzend darüber scherzen, was für einen (Ehe-)Mann sie sich vorstellen ...

Anatevka (Ursprünglich: Fiddler on the Roof) basiert auf Tevye the Dairyman and his Daughters, einer Reihe von Geschichten des berühmten jüdischen Schriftstellers Solomon Naumovich Rabinovich, die er zwischen 1894 und 1914 auf Jiddisch über das jüdische Dorfleben im Siedlungsgebiet des kaiserlichen Russlands schrieb. Er wurde unter dem Pseudonym Scholem Alejchem berühmt.

Die Geschichten gehen auf seine eigene Kindheit unweit des heutigen Kiew zurück (fiktionalisiert als Yehupetz). Alejchem schrieb eine dramatische Adaption, die bis zu seinem Tod unvollendet blieb, jedoch 1919 vom Yiddish Art Theatre auf Jiddisch produziert und in den 1930-er Jahren verfilmt wurde. In den späten 1950-er Jahren wurde am Broadway ein auf den Geschichten basierendes Musical von Arnold Perl mit dem Titel Tevje und seine Töchter inszeniert. Zuvor hatten Mike Todd und andere lange erwogen, dieses Musical an den Broadway zu bringen, ließen die Idee aber zunächst fallen.

Denn sie befürchteten, dass Fiddler on the Roof „zu jüdisch“ sei, um das Mainstream-Publikum zu begeistern. Kritiker/innen fanden es dann aber oberflächlich; Philip Roth bezeichnete es im New Yorker gar als „Schtetl-Kitsch“. Einige Verfremdungen im Musical tragen dazu bei, dass es gefällig wirkt. So wird der örtliche russische Offizier nicht als brutal, wie Alejchem ihn beschrieben hatte, sondern als sympathisch dargestellt.

Die Show fand seinerzeit die richtige Balance und wurde eine der ersten populären Post-Holocaust-Darstellungen der verschwundenen Welt des osteuropäischen Judentums. Die ursprüngliche Broadway-Produktion, die 1964 uraufgeführt wurde, hatte als erstes Musikthea-
ter in der Geschichte mehr als 3 000 Vorstellungen. Zahlreiche Autor/innen folgten der Erzähltradition Alejchems, insbesondere Isaac Bashevis Singer und zuletzt Tomer Dotan-Dreyfus, dessen wunderbarer Roman Birobidschan vergangenes Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

Anfangs hatten die Autoren von Anatevka auch überlegt, das Musical Tevje zu nennen, bevor sie sich für einen Titel entschieden, der sich an Gemälden von Marc Chagall (etwa Grüner Geiger, 1924) anlehnte und der auch das Bühnenbild inspirieren sollte.

Gil Mehmert inszeniert das Stück in einer Koproduktion des Saarländischen Staatstheaters mit den Théâtres de la Ville de Luxembourg auf der großen Bühne des Grand Théâtre. Chagalls Geiger schimmert grünlich hinter den Fenstern des kleinen Dorfes Anatevka durch. Das verschachtelte Bühnenbild, das sich mal zur häuslichen Stube, mal zum Stall umfunktionieren lässt, wirkt wie eine Miniatur des jüdischen Schtetl.

In dem archaischen Mikrokosmos trinken die Männer, tanzen und singen. Um Tevjes Tochter Zeitel findet ein Kuhhandel statt. Doch sie verschmäht den reichen Fleischer Lazar Wolf und zieht mit dem mittellosen Schneider Mottel ab.

Folkloristisch wirkt das Ganze von Anbeginn. Das liegt vor allem an der recht stereotypen Darstellung der Schtetl-Juden. So wirkt der Rabbi mit langem Rauschebart stets verwirrt, wie die Karikatur eines osteuropäischen Rabbiners. Anleihen, wie eine humorvolle Darstellung gelingen kann, hätte man bei Joan Sfar finden können. Im Begleitheft liest man, das Stück zeige, wie „aus Beziehungsgeschichte und Dorfgeschichte Weltgeschichte wird“. Nicht frei von Nostalgie lasse einen Anatevka in eine verlorene, zerstörte Welt blicken und entwickle eine „universelle Kraft“.

Auf der Hochzeit Zeitels mit Mottel unter dem Baldachin randalieren russische Soldaten. Die Gewalt wird in flimmerndem Licht und in Zeitlupe dargestellt und bekommt dadurch etwas nicht-real Märchenhaftes.

Zeitels Schwester Hodel verliebt sich in den Hauslehrer Perchik, der sie unter anderem durch den Tanz verführt. Der Anarchist bringt frischen Wind ins Dorf und subversive Ideen ... Dass Hodel ihm treu nach Sibirien folgt, wirkt übertrieben. Doch Anatevka ist eben ein Märchen.

Die bekannten Lieder und Melodien aus dem Musical, wie „Wenn ich einmal reich bin...“, ziehen die Zuschauer/innen mit. Musikalisch beeindruckt der Opern-Chor des Saarländischen Staatstheaters.

Nur einmal zeugt ein Bild von einer Regieidee, und zwar als Tevje seine Großmutter und die Urväter und -Mütter im Traum in einer Geisterszene erscheinen. Da tanzen sie fliegend mit morbiden Masken wie bei einem mexikanischen Totenfest um sein Bett herum.

Der jüdische Humor Alejchems transportiert sich vor allem über Tevjes Selbstgespräche, etwa: „Ich weiß, wir sind das auserwählte Volk. Aber könntest du nicht ab und zu mal ein anderes auserwählen?“

Pitt Simon gibt den „guten“ Wachmann, der sich in einer undankbaren Situation befindet. Ein wenig wie die Luxemburger während der deutschen Besatzung. Einerseits hat er den Befehl, die Juden zu vertreiben; weil er aber kein so schlechter Kerl ist, warnt er sie immerhin vor, sodass sie noch ihre Sachen packen können: „Der Erlass trifft alle“, verkündet er tumb, dreht sich verschämt um und murmelt: „Ich habe damit nichts zu tun.“

Tevjes Frau Golde nimmt den Schicksalsschlag hin: „Naja, Anatevka war nicht der Garten Eden – es ist ein Ort wie jeder andere, und unsere Vorfahren mussten auch schon viele Orte verlassen.“

Ein Kern des Stücks, die Emanzipation der drei Töchter Tevjes, die sich nicht an Männer vermitteln lassen wollen, mit den anfangs beschworenen Traditionen brechen und ihren eigenen Weg gehen, versandet leider etwas. So wenden die drei sich aus heiterem Himmel ab, und der Vater nimmt es zähneknirschend in Kauf. Allein die Liaison zwischen dem russischen Christen Fedja und seiner Tochter Chava geht ihm zu weit: „Ein Vogel kann einen Fisch heiraten, aber wo wollen sie wohnen?“ Wütend verstößt er seine Tochter: „Chava ist für uns gestorben!“

Am Ende sind die Fenster der Stuben weit aufgeklappt und es schneit. Die Idylle wird gebrochen durch ein angedeutetes Pogrom. Es wird darauf verzichtet, explizit Gewalt auf der Bühne nachzustellen. Der Vorhang fällt abrupt. Enrico De Pieri erntet für seine Interpretation des Tevje zu Recht rauschenden Applaus.

„Die Geschichte vom Überlebensmut und Überlebenswillen einer Gemeinschaft in schwierigen Zeiten eröffnet in Anbetracht des verachtenswerten Anstiegs an antisemitisch motivierter Gewalt heute und der brutalen Wirklichkeit in Israel, Palästina und der Ukraine einen Raum für Menschlichkeit, Trost und Zusammenhalt“, heißt es im Programmheft politisch korrekt, um vieles im Gefühl zu vermischen, was der Verstand trennen sollte.

Besondere Regie-Einfälle oder Bezüge zur Gegenwart (in der Spielzeit 2016/17 erregte etwa Ewa Teilmans Inszenierung am Theater Aachen Aufmerksamkeit, deren Bühnenbild von Andreas Becker direkte Bezüge zu den Kämpfen in Aleppo herstellte) vermisst man in der konventionellen Inszenierung fast gänzlich. So beschert Anatevka einen unterhaltsamen Abend.

Anina Valle Thiele
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