EU – Türkei

Machtdemonstration

d'Lëtzebuerger Land du 21.04.2011

Türkeis Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, vergangene Woche zu Gast im Europarat, rief in Richtung einer französischen Abgeordneten, die ihn zur Religionsfreiheit in seinem Land befragt hatte: „Unsere Freundin ist der Türkei französisch geblieben!“ Diesen Satz konnten nur Türken verstehen, war er doch unverhohlen sarkastisch gemeint. Auf Türkisch meinte Erdogan damit, dass jemand einen Sachverhalt nicht versteht, weil er ihm fremd ist.

Wortwörtlich war die Aussage nicht zu übersetzen, doch hatten die Volksvertreter intuitiv verstanden, dass Erdogan sie alle damit zu brüskieren beabsichtigte. Die Repräsentanten waren empört, denn in den vergangenen Jahren hatten sie stets einen freundlichen und intelligent auftretenden Erdogan zu sehen bekommen. Sein Affront schien jedoch zu sagen, dass er nicht mehr bereit sei, alles zu tun, um sein Land in die EU zu bringen. Dieser Effekt, davon ist auszugehen, war Erdogans volle Absicht.

Die türkische Öffentlichkeit war hingegen vom Gebahren ihres Premiers nicht überrascht. Seit Monaten werden sie Zeugen einer bedenklichen Verwandlung. Aus dem besonnenen Regierungschef Erdogan ist in den letzten Monaten ein arroganter, kratzbürstiger und vor allem nationalistischer Politiker geworden, der das Land am Bosporus allmählich vom EU-Kurs abbringt.

In November, zum Beispiel, als Klagen laut wurden, es säßen zahlreiche Journalisten in türkischen Gefängnissen, kläffte er zurück: „Niemand sitzt im Gefängnis, weil er als Journalist gearbeitet hat!“ Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass türkische Staatsanwälte willkürlich darüber urteilen, welcher türkische Pressevertreter Regierungsmitglieder „beleidigt“ oder mit seiner Arbeit gar „Terroristen unterstützt“.

Auch die Kunst ist in Ankara Opfer politischer Willkür geworden. Während eines Besuchs in Kars, einer Stadt an der Grenze zu Armenien, beschimpfte Erdogan ein Denkmal des Bildhauers Mehmet Aksoy als „Ungeheuer“ und kündigte dessen Abriss an. Erdogan, so glauben viele Türken, trete so auf, um Stimmung zu machen für die Wahlen in Juni. Da das Denkmal der armenisch-türkischen Versöhnung gewidmet ist, denken sie, der Premier möchte mit populistischen Aktionen um die Stimmen der Nationalisten werben.

Erdogan, seine Regierung und die türkischen Staatsanwälte scheinen systematisch daran zu arbeiten, die ohnehin instabile Demokratie sowie die Meinungs-, Organisations- und Pressefreiheit in der Türkei untergraben zu wollen. Dies bedeutet auch, dass sie damit Stück für Stück die Hoffnungen der türkischen Bevölkerung auf eine EU-Mitgliedschaft begraben. Der Trend geht dahin, dass sich das Land von den Kopenhagener Kriterien abwendet, die Voraussetzung für Beitrittsverhandlungen mit der EU sind.

Nichts hätte dieses deutlicher illustrieren können als die kürzlich erfolgte Verhaftung von Ahmet Sik und Nedim Sener. Denn beide Journalisten sind bekannt wegen ihrer Kritik an staatlichen Repressionen. Sener hatte zuletzt seine Recherchen rund um die Ermordung des armenischen Verlegers Hrant Dink in einem Buch verarbeitet. Darin kommt er zu dem Schluss, dass die Justiz absichtlich Spuren vertuscht, die eine Beteiligung türkischer Behörden an diesen politischen Mord belegen.

Sik dagegen scheint wegen eines unveröffentlichten Buches ins Fadenkreuz der Machthaber geraten zu sein. Viele türkische Intellektuelle und Medien glauben, dass Fethullah Gülen, der Chef einer religösen Sekte, sich durch sein Buch Die Armee des Imams beleidigt fühlt und hinter Siks Verhaftung steckt.

Doch die Staatsanwaltschaft ließ durchblicken, dass Sik deshalb verhaftet wurde, weil ein Exemplar seines Buches während der Durchsuchung eines TV-Senders der Polizei in die Hände gefallen war. Da der durchsuchte Sender Oda TV als Unterstützer einer Organisation Namens „Ergenekon“ agiert, wird nun auch Sik vorgeworfen, zum Ergenekon-Netzwerk zu gehören. Ein absurder Gedanke, denn Ergenekon-Mitglieder stehen für Tausende grauenvoller Morde, Attentate und für mehrere Putschpläne vor Gericht. Prozessbeobachter fürchten nun, mit Siks Anklage werde der historische Ergenekon-Prozesses verwässert, um so die verhafteten Ex-Generäle, Mafiakiller und Staatsbeamten freizusprechen.

Ministerpräsident Erdogan und sein Umfeld indes folgen unbeirrt ihren Kurs. Zu Wochenbeginn schloss die türkische Wahlkommission ein Dutzend kurdischer Kandidaten von den Juni-Wahlen aus. Einige der nun gesperrten Kandidaten sitzen für die pro-kurdische „Partei des Friedens und der Demokratie (BDP)“ im türkischen Parlament. Angeblich sei die Kommission auf Akten gestoßen, die zeigten, dass diese Abgeordneten vorbestraft seien. Deshalb müsse ihnen die weitere Teilnahme am politischen Prozess untersagt werden, hieß es. Dumm nur, dass diese Umstände seit Jahren bekannt waren und bislang keine Wahlkommission gestört hatten.

Während die Entscheidung unter Kurden heftigen Unmut auslöste, wies Kommissionspräsident Ali Em alle Vorwürfe zurück, die Entscheidung sei unter politischem Druck gefällt worden. Doch ein Blick auf andere Kandidaten lässt kaum vermuten, dass dies ein objektiver Beschluss ist. Erdogan selbst ist vorbestraft. Zudem erlaubte die Kommission einem unabhängigen Kandidaten die Teilnahme, der kürzlich wegen seines tätlichen Angriffes just auf den früheren Chef der pro-kurdischen Partei, Ahmet Türk, eine elfmonatige Haftstrafe bekam.

Ein wahltechnischer Grund verstärkt den Verdacht der politischen Einflussnahme. Die BDP kann die 10-Prozent-Hürde nicht überspringen. Die Hürde ist ein Überbleibsel der Militärdiktatur der 1980-er Jahre und hatte zum Ziel, Kurden aus dem Parlament zu halten. Kurdische Politiker umgehen diese Hürde, in dem sie als unabhängige Kandidaten antreten, da dann die 10-Prozent-Klausel nicht gilt. Nach gewonnener Wahl treten die Gewählten dann in die BDP ein.

Nun wird diese Gesetzeslücke gestopft – und der einzige Gewinner heißt Erdogan. Denn nur so kann seine Partei endlich den langersehnten haushohen Sieg in den kurdisch-bewohnten Teilen des Landes erringen und ihre Mehrheit im Parlament erweitern. Das würde wiederum Erdogan seinen langjährigen Traum ermöglichen: die Einführung des Präsidialsystems und die Wahl Erdogans zum ersten türkischen Präsidenten.

Dass er mit seiner zweifelhaften Strategie die ohnehin stockenden Verhandlungen mit der EU weiter erschwert, kümmert ihn nicht. Im Gegenteil: Durch öffentliche Reden seiner Emissäre in den letzten Wochen lässt er die Europäer wissen, kein Land warte 45 Jahre vor den Toren Europas auf Einlass.

Ankara intensiviert zeitgleich seine Beziehungen zu Moskau, Peking und Teheran. Vor einigen Tagen unterschrieben zum Beispiel die staatlichen Medien der Türkei und Chinas einen umfangreichen Kooperationsvertrag – in einer Zeit, in der westliche Auslandsmedien wie die BBC oder die Deutsche Welle, ihre Präsenz im türkischen Medienmarkt reduzieren. Eine Verschiebung der türkischen Präferenzen weg von Europa hin zu Russland, China und Iran, zumindest im wirtschaftlichen Raum, bahnt sich an. Die neuen Freunde könnten Erdogan schnell neue Bündnisse ermöglichen, wenn die EU die Türkei weiterhin vor der Tür warten ließe.

Cem Sey
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