Die seit Jahrzehnten an Zustimmung verlierende LSAP konnte im Oktober ihren Negativtrend einstweilen stoppen und sich auf niedrigem Niveau stabilisieren. In der Opposition will sie ihr Profil schärfen. Am 9. Juni steht die nächste Bewährungsprobe an

„Mir hunn d’Patronen gefaart“

Liz Braz (im Gespräch mit Francine Closener) am Dienstag im Parlament
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 15.03.2024

„A mir hunn déi Wale ganz sécher net gewonnen. Mat der beléiftster Politikerin hu mir eise Score just kënnen em minimal 1,3 Prozent par Rapport zu 2018 verbesseren. Aus dem schlechtste Resultat 2018 gouf dat zweetschlechtst Resultat 2023.“ Der Ko-Präsident der Jungsozialisten, Max Molitor, sprach am Samstag auf dem Kongress der Jugendpartei in der Escher Maison du Peuple aus, was sich in der LSAP bislang keiner öffentlich zu sagen traute: Die Sozialisten erreichten im Oktober nur 18,91 Prozent der Wähler/innen und schafften es nicht, die hohen Verluste der Grünen aufzufangen. Mit ihrer durch Corona prominent gewordenen nationalen Spitzenkandidatin Paulette Lenert verzeichneten sie zwar im Osten ihr bestes Resultat seit 25 Jahren, für einen zweiten Sitz reichte es trotzdem nicht. In ihrem Traditionsbezirk Süden konnten sie trotz leichter Zugewinne den 2018 verlorenen siebten Sitz nicht zurückgewinnen. Lediglich im Zentrum konnte die LSAP sich mit viel Glück den dritten Restsitz zurückholen – dafür reichte ihr ein Stimmenzuwachs von lediglich 0,06 Prozentpunkten.

Die nationale Spitzenkandidatin und die Parteileitung interpretieren den Wahlausgang indes positiver. Mit ihrem eigenen Score sei sie sehr zufrieden, sagt Paulette Lenert. Und die LSAP habe endlich wieder hinzugewonnen, nachdem sie seit 2004 beständig an Zustimmung verloren hatte. Ko-Parteipräsident Dan Biancalana gesteht zwar, dass man sich vom Wahlausgang mehr erwartet hatte, für eine Regierungspartei sei das Resultat jedoch annehmbar. Und Fraktionspräsidentin Taina Bofferding freut sich darüber, dass fünf Frauen direkt gewählt wurden und mit Liz Braz und Claire Delcourt zwei junge Erstkandidatinnen ins Parlament einzogen. 2018, als die LSAP erstmals in ihrer Geschichte unter 20 Prozent fiel (17,6%), wurden ausschließlich Männer gewählt.

Am 9. Juni steht für die luxemburgischen Sozialisten die nächste Bewährungsprobe an. 2004 hatten sie ihren zweiten Sitz im EU-Parlament verloren, 2014 waren sie mit nur 11,75 Prozent auf ein historisches Tief gefallen. 2019 hatten sie sich mit dem Spitzenkandidaten Nicolas Schmit nur unwesentlich erholt (um 0,4 Prozentpunkte). Trotzdem wurde Schmit EU-Kommissar für Arbeit und Soziales, vergangene Woche wurde der 70-Jährige auf dem Wahlparteitag der europäischen Sozialdemokraten in Rom zum Spitzenkandidaten gekürt. Obwohl der frühere Arbeitsminister die Mindestlohnrichtlinie durchgesetzt hat und der EU-Ministerrat diese Woche auch seiner Direktive zur Regelung der Plattformarbeit zugestimmt hat, gelten seine Chancen, Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin abzulösen, als gering. Bei den Wahlen kandidieren wird er nicht, weil er in allen 27 Mitgliedstaaten Wahlkampf machen müsse und daher in den nächsten Wochen nur selten in Luxemburg sein werde, sagt Schmit dem Land. Jean-Claude Juncker habe 2014 auch nicht kandidiert, als er EU-Kommissionspräsident wurde, die EVP-Spitzenkandidatin von der Leyen sei dieses Jahr ebenfalls auf keiner Liste.

Nachdem im Oktober feststand, dass die LSAP in die Opposition muss, wollte sie den Europawahlkampf eigentlich mit dem entthronten ewigen Außenminister Jean Asselborn bestreiten. Nachdem er im Oktober als Erstgewählter im Süden sein Abgeordnetenmandat nicht angenommen hatte, lehnte Asselborn auch eine Kandidatur zu den Europawahlen ab, weil ihm mit fast 75 Jahren die Motivation und Energie dazu fehle (d’Land, 2.2.2024). Genau wie die beliebte Paulette Lenert, die noch Mitte Dezember im RTL Radio verkündet hatte: „Selbstverständlech ass Europapolitik och eppes, wat mech intresséiert, wat mech nach ëmmer intresséiert huet, mee dat sinn Decisiounen, déi wäerten an der Partei geholl ginn.“ Die Partei hat sie danach wochenlang bezirzt, doch schließlich gab Lenert der Wahlkommission einen Korb. Sie „spüre es nicht im Bauch“ und habe das Gefühl, ihr Platz sei in der Abgeordnetenkammer, begründet sie ihre Entscheidung am Dienstag gegenüber dem Land. Wenn sie als Zugpferd mit in die Europawahlen gegangen wäre und das Mandat nicht angenommen hätte, hätte ihr das als Wählerbetrug ausgelegt werden können.

Bis 2004 war es üblich, dass Minister/innen und andere nationale Spitzenpolitiker/innen sowohl bei den Kammer- als auch bei den Europawahlen antraten, die bis zu den vorgezogenen Neuwahlen 2013 am gleichen Tag abgehalten wurden. Die meisten zogen aber eine Regierungsbeteiligung oder ein Abgeordnetenmandat dem Sitz im EU-Parlament vor. Um diese „Stimmenfänger“-Praxis zu beenden, wurde 2004 die Zahl der Kandidat/innen bei den Europawahlen von zwölf auf sechs halbiert. Seitdem stellen fast alle Parteien nur noch Kandidat/innen auf, die tatsächlich eine europäische Karriere anstreben. Die LSAP scheint sich nun nicht mehr daran halten zu wollen. Es stehe viel auf dem Spiel: Oberstes Ziel sei es, zu verhindern, dass die ADR einen Sitz bekommt und rechtsextreme Parteien insgesamt in Europa gestärkt werden, heißt es aus der LSAP.

Spitzenkandidat ist erstmals der in der Vergangenheit bei Wahlen häufig glücklose Marc Angel (61), im Tandem mit Danielle Filbig, seit Juni Gemeinderätin in Rambrouch. Die 26-jährige RTL-Korrespondentin soll Charles Goerens (DP) und Christophe Hansen (CSV) bei den Wähler/innen im Nordbezirk Konkurrenz machen. Daneben bieten die Sozialisten mit Franz Fayot, Mars Di Bartolomeo und Liz Braz drei amtierende Abgeordnete auf, von denen nur der frühere Wirtschaftsminister unmissverständlich bekräftigt, dass er sein Amt tatsächlich annehmen werde. Liz Braz, die vergangenes Jahr aus dem Stand sowohl in den Escher Gemeinderat als auch in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde, sagte erst nach langem Zögern zu. Nicht aus Interesse am EU-Parlament, sondern um ihrer Partei einen Gefallen zu tun. Ähnlich argumentiert Mars Di Bartolomeo (71), der Liz Braz persönlich davon überzeugte, im Juni anzutreten.

Sowohl die Parteispitze als auch die Kandidat/innen beteuern, dass Marc Angel selbstverständlich im Europarlament bleiben solle, in das er 2019 gewählt wurde. Seit Januar 2023 ist er einer von 14 Vizepräsident/innen in Straßburg. Dass andere Kandidat/innen, wie der frühere Wirtschaftsminister Fayot (52), der frühere Gesundheitsminister Di Bartolomeo – bei den Parlamentswahlen immerhin Dritter im Süden – oder Senkrechtstarterin Liz Braz mehr Stimmen bekommen als er, ist jedoch nicht auszuschließen. Würden sie das Mandat annehmen, würde das für den am Dienstag 61 Jahre alt gewordenen Angel wohl das Ende seiner politischen Laufbahn bedeuten.

Das Risiko, das Paulette Lenert scheut, nimmt nun die erst 27-jährige Liz Braz auf sich. Nach ihren Wahlerfolgen im vergangenen Jahr wurde sie als neue Hoffnungsträgerin der Sozialisten gefeiert. Eigenen Aussagen zufolge hat sie durchaus nationalpolitische Ambitionen. Würde sie am 9. Juni gewählt, wäre sie in einer Zwickmühle: Lehnt sie das Mandat ab, könnte man ihr Wählerbetrug vorwerfen. Nimmt sie es an, kann sie sich nicht auf nationalpolitischer Bühne für die nächsten Kammerwahlen empfehlen und müsste unter Umständen auch ihren Sitz im Escher Gemeinderat aufgeben. Ihre Konkurrent/innen würde das vielleicht arrangieren.

1999, als die LSAP zum letzten Mal in die Opposition musste, entbrannte zwischen Alex Bodry, Jeannot Krecké, Robert Goebbels und Jean Asselborn ein Machtkampf um die Rolle des starken Mannes in der Partei, den Asselborn schließlich für sich entscheiden konnte. In der Post-Asselborn- (und Post-Etienne-Schneider-)Ära wird die LSAP inzwischen von Frauen regiert. Ob die nächste nationale Spitzenkandidatin erneut Paulette Lenert heißen wird, ist gar nicht mehr so sicher. An ihre neue Aufgabe als Oppositionspolitikerin muss die 55-jährige Juristin sich eigenen Aussagen zufolge erst gewöhnen. In den vergangenen Wochen waren Gerüchte kursiert, die frühere Gesundheits- und Vize-Premierministerin fühle sich im Parlament unterfordert und wolle sich aus der Politik zurückziehen, um eine Karriere als Geschäftsanwältin einzuschlagen. Auf Nachfrage weist Lenert dies jedoch zurück: Zwar könne sie sich durchaus vorstellen, sich wieder als Anwältin am Barreau einzuschreiben, wie vor über 30 Jahren, bevor sie 1994 zum Staat wechselte. Sie habe sich auch schon erkundigt, was sie dafür tun müsste. Ihr Abgeordnetenmandat wolle sie aber weiterhin mit viel Engagement ausüben, unterstreicht Paulette Lenert, die selbst an den Gerüchten nicht ganz unschuldig ist. Als sie in der Woche nach den Kammerwahlen im Radio 100,7 gefragt wurde, ob sie ihr Abgeordnetenmandat bis zum Ende der Legislaturperiode ausüben wolle, antwortete sie: „Dat kann ech elo haut net soen.“ Es war nicht das erste Mal, dass sie mit uneindeutigen Aussagen verwirrte.

Nach dem Gang in die Opposition war es vor allem die frühere Innenministerin Taina Bofferding (41), die in der Partei Verantwortung übernahm, als sie den Vorsitz der Kammerfraktion für sich beanspruchte. Im Oktober wurde sie auf der LSAP-Liste hinter Jean Asselborn Zweite im Südbezirk und bekam fast 4 000 Einzelstimmen mehr als der neue Finanzminister Gilles Roth, Erstgewählter auf der CSV-Liste. Sollte es ihr gelingen, sich als Oppositionsleaderin zu beweisen und sich ihre Popularität künftig in Umfragen bestätigen, könnte Taina Bofferding bei den nächsten Nationalwahlen in vier Jahren den Anspruch erheben, nationale Spitzenkandidatin der LSAP zu werden. Zwischen Ko-Parteipräsidentin Francine Closer (54) und der 35-jährigen Newcomerin Claire Delcourt könnte es im Zentrumsbezirk zu einem internen Machtkampf kommen. Anders als die CSV, wird die LSAP erst nach den Europawahlen ihren Landeskongress abhalten, auf dem eine neue Parteispitze gewählt wird. Spätestens dann wird sich zeigen, wo die Reise hingeht – zumindest personell.

Inhaltlich wolle die LSAP die Zeit auf der Oppositionsbank nutzen, um ihr Profil wieder zu schärfen und ihre Werte in den Vordergrund zu rücken, sagt Dan Biancalana. 20 Jahre ununterbrochene Regierungsbeteiligung als Juniorpartner von CSV und DP haben ihre Spuren hinterlassen. Max Molitor kritisierte am Samstag die ängstliche Wahlkampagne seiner Mutterpartei. Bei der Vermögenssteuer sei die LSAP erst konkreter geworden, nachdem die Jungsozialisten sich öffentlich dafür eingesetzt hätten; die Arbeitszeitverkürzung habe die LSAP nicht offensiv genug beworben. Als er noch Arbeitsminister war, hatte Georges Engel zwar beim Liser eine Studie dazu in Auftrag gegeben, insbesondere die sozialliberale Paulette Lenert hatte die zaghafte Forderung nach einer 38-Stunden-Woche bei öffentlichen Wahlkampfauftritten aber immer wieder relativiert und verwässert, um für CSV und DP koali-
tionsfähig zu bleiben. Die vor zehn Jahren noch von Franz Fayot geforderte Erbschaftssteuer in direkter Linie hatte die LSAP erst gar nicht in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Was wohl auch daran lag, dass sie auf der Suche nach neuen Wählergruppen kleine und mittelständische Unternehmer/innen nicht verschrecken wollte.

„Mir hunn d’Patronen gefaart, obwuel d’Wielerschaft net nëmmen aus deene besteet, an eis Wielerschaft ganz bestëmmt net“, skandierte Max Molitor vor rund 30 Jungsozialisten in der Maison du Peuple und erinnerte den Parteipräsidenten, den Generalsekretär und die Fraktionsvorsitzende daran, dass die LSAP „déi schaffend Leit“ vertrete: „Dat ass eis DNA. Mir mussen erëm zeréck fanne bei eis Valeuren.“ Tatsächlich hatte eine nach den Kammerwahlen im Land veröffentlichte Regressionsanalyse gezeigt, dass die LSAP „am besten in Gemeinden mit den meisten Arbeitern gewählt“ wurde. Vergangene Woche trafen die Sozialisten sich mit Vertreter/innen des OGBL, um sich mit ihrem historischen Alliierten über die Reform des Tarifvertragsgesetzes, die ambulante Wende in der Gesundheitsversorgung, die Rentenfrage und die Wohnungskrise auszutauschen. „D’LSAP an den OGBL wäerte sech och an Zunkunft reegelméisseg treffen, fir iwwer déi politesch a gesellschaftlech Entwécklung ze schwätzen a fir sech #Zesummen fir eng gerecht a solidaresch Gesellschaft anzesetzen“, verkündeten die Sozialisten anschließend auf Facebook.

Ob die LSAP tatsächlich noch oder, in der Opposition, wieder eine Arbeiterpartei sein will, bleibt indes weiter offen. Eine definitive Wahlanalyse wolle man erst machen, wenn die mit dem Politologen Philippe Poirier besetzte Chaire parlementaire der Uni Luxemburg die endgültigen Resultate ihrer Polindex-Studie vorgestellt hat, sagen Dan Biancalana und Paulette Lenert übereinstimmend.

Luc Laboulle
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