Die kleine Zeitzeugin

Als die wilden Kerle schriebenMichèle Thoma

d'Lëtzebuerger Land vom 12.05.2023

Früher musste man Leichenwäscher (von *innen hab ich nie gelesen, zumindest nicht in den Autobiographien meiner amerikanischen Lieblingsschriftsteller) werden, zumindest, oder im Todestrakt gesessen haben, im Irrenhaus das damals noch Irrenhaus hieß, Baumwolle gepflückt haben, eine Bank überfallen haben oder einen Truck gedrivt haben. Eher harte Sachen. Wenn man Schriftsteller werden wollte, hundert Jahre früher musste Mann gar maudit sein, darunter ging gar nichts. Das las sich dann so blutig prunkvoll in den Klappentexten, das waren solche Appetizer für behütete Schülerinnen. Die Autoren waren richtige Draufgänger, und sind dann auch sehr oft drauf gegangen oder hockten wenigstens umnachtet und erleuchtet in einem Turm, der nicht aus Elfenbein war. Villon wurde gehängt, Oscar Wilde saß im Kerker. Sie waren schreckliche Haudegen, oder wenigstens Tramper oder Säufer oder Junkies, Burroughs erschoss seine Frau. Nicht dass ich das toll fände. Die Dichterinnen brachten sich bloß selber um.

Die Autorinnen hatten selten so ein aufregendes Leben, die wenigen die es gab, die sich vorm seriellen Gebären drückten wurden meist verrückt oder starben früh, die einzige Möglichkeit frei zu sein. Oder zumindest tragisch, das war die Strafe. Sie steckten den Kopf in den Gasherd, sie verbrannten auf dem Scheiterhaufen in ihrem Bett oder endeten vereinsamt und verarmt, wie das hieß. Gottseidank ist es jetzt jetzt, könnte man meinen, Nostalgie ist da fehl am Platz. Jetzt liest man bei den Autor*innen meist, dass sie Schreibschulen besucht haben oder Kreativkurse, und wenn es mal was Härteres war, sind sie eher die Opfer, die in einer Talk Show für Fortgeschrittene sensibel befragt werden, von einem Interviewer, der sehr vorsichtig vorgeht, weil das so sensibel ist. Und wenn eine Vita dann abgesehen von Depressionen, denen mit großem Verständnis begegnet wird, etwas krass ausfällt wird gleich die Triggerwarnung ertönen. Kann man das dem Feierabendpublikum zumuten? Kriegt es nicht Schüttelfrost und Ausschlag, wie das altmodisch heißt, oder schlimmer, es wird verstört, traumatisiert, irgendein Kindheitserlebnis, vermutlich ein verdrängter Missbrauch, wird getriggert?

Je schlimmer, je wüster ein Künstler war, desto besser. Verfemt war ein Ehrenmal. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, einem Künstler vorzuwerfen, Grenzen überschritten zu haben. Der Künstler musste grenzüberschreitend sein, das war schließlich sein Jobprofil. Er (gendern nicht nötig, s.o.) musste zu weit gehen, ein Künstler der nicht zu weit ging war gar keiner.

Aber jetzt, wer braucht jetzt noch solche altmodischen wilden Kerle, solche exaltierten Dichterinnen, die für uns an den Ketten der Konventionen rütteln die es gar nicht mehr gibt und Sprengsätze ins Gesicht des biederen Lesepublikums knallen das es gar nicht mehr gibt? Einen Gott lästern, den es hier, wenn überhaupt nur noch in bekömmlichen Dosen gibt. Dieser Job ist doch längst erledigt, die Tabus liegen in Trümmern, super kleingekriegt!, endlich, der altmodische Schutt ist weggeschafft. So schön clean jetzt hier.

Was soll also noch gesprengt werden? Alles ist frei, wir sind befreit. Niemand muss mehr normal tun, die Idée fixe einer Norm ist längst entsorgt. Wir können doch machen, was wir wollen, und wenn wir es wollen können wir es. Das erzählen uns zumindest all die Start-Up-Winner-Typen, man muss nur dran glauben, es ist immer der Glauben. Glaub an dich und du bist deine eigene Göttin! Wir zupfen an unseren Barthaaren und starren in den Bildschirm-Horizont, was kommt von dort? Etwas gänzlich Neues, wird gemunkelt. Ganz neue Gottheiten. Solche die sich uns noch nicht vorgestellt haben. Wir können sie uns noch nicht mal vorstellen.

Kein Wunder, dass wir in unsere Safe Spaces krabbeln und es uns gemütlich machen in unsern Babbels, in denen wir vor uns hin brabbeln. Mit und für Gleichgesinnte(n). Mit richtigen Regeln wieder. Den einzig richtigen. Und neue Tabu-Stellwände haben wir auch schon aufgebaut.

Michèle Thoma
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