Neuer Lockdown?

Legitimationsdruck

d'Lëtzebuerger Land vom 06.11.2020

Vielleicht hatte Premier Xavier Bettel sich erinnert, dass am Dienstag in den USA gewählt würde, und spekuliert, dass die mit Zeitverschiebung nach und nach eintreffenden Auszählungsergebnisse aus den Vereinigten Staaten auch in Luxemburg viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken würden. Und dass dann für wenigstens einen Tag nicht die Corona-Pandemie das dominierende Thema wäre. Vielleicht berief er deshalb am Mittwoch nicht die schon angekündigte Regierungsratssitzung ein, von der erwartet worden war, dass sie weitere Restriktionen beschließt.

Denn Zeit, und wenn es ein paar Tage sind, kann die Regierung im Moment gut gebrauchen. Einerseits ist es logisch, dass sie abwartet, was die vor einer Woche in Kraft getretenen Maßnahmen bringen: die nächtliche Ausgangssperre, die „Vierer-Regel“, das verschärfte Maskengebot. Und vielleicht brachten ja auch Xavier Bettels Appelle an die Vernunft Mitte Oktober schon etwas: Die Zahl der registrierten Neuinfektionen mit dem Coronavirus sind weiterhin hoch, aber sie stagnieren. Vergangene Woche hatten sie noch „konstant exponentiell“ zugenommen, wie die Modellierer von der Wissenschaftler-Taskforce in ihrem jüngsten, am Montag veröffentlichten Bericht schreiben. Vor zwei Wochen wuchsen sie sogar „beschleunigt exponentiell“. Für alle, die sich noch an Differentialrechnung erinnern, bedeutet dies, dass man vor zwei Wochen mit der Beschreibung des Zuwachses in der Infektionskurve eine Ableitung mehr brauchte und durch die Kurve ein Ruck gegangen war.

Andererseits aber ist das womöglich gar nicht mehr so wichtig. Von dem deutschen SPD-Bundeskanzler Willy Brandt ist der Satz überliefert, Regieren bestehe nicht etwa vor allem darin, politische Entscheidungen zu treffen, sondern zu 70 Prozent in der nachträglichen Legitimierung der Entscheidungen. Über den Prozentsatz lässt sich natürlich diskutieren. Was den Legitimierungsdruck angeht, ist der für die Luxemburger Regierung und ihre Corona-Politik derzeit groß und nimmt vermutlich konstant exponentiell zu.

Zumindest bei einem Teil der Gesellschaft ist die Regierung dabei, die Glaubwürdigkeit ihrer Corona-Politik zu verspielen. Etwa bei jenen Menschen, die die Zahlen kennen und verstanden haben, dass die Neuinfektionen mit ein bis zwei Wochen Verzögerung auf die Zahl der Hospitalisierungen durchschlagen. Erfahren sie dann, dass in den Spitälern zwar keine Bettenknappheit droht, aber eine beim Personal, kommt zwangsläufig die Frage auf, ob die Regierung nicht schon längst mehr hätte unternehmen müssen. Da Belgien und Frankreich wieder im Confinement sind, Deutschland in einem „Mini-Lockdown“ mit geschlossenen Restaurants, Kneipen und Kulturstätten, lautet die nächste Frage, ob die Regierung überhaupt noch etwas im Griff hat.

Andere Teile der Gesellschaft sind zufrieden damit, dass Luxemburg verglichen mit den Nachbarn zurzeit einer Insel der Lebensfreude gleicht. Wenngleich abends um elf Schluss sein soll. Wieder andere fürchten sich vor einem neuen Lockdown, der den ganzen Winter dauern könnte. Nicht jeder wohnt in einem geräumigen Eigenheim, in dem sich, wenn es sein muss, viele lange Abende gemütlich verbringen lassen. Und dann gibt es noch jene, die im Frühjahr die harten Botschaften der Regierung von Krankheit und Lebensgefahr besonders gut verstanden haben und in großer Angst vor dem Virus leben. Dabei sind sie vielleicht gar nicht einmal „vulnerabel“.

Jedes Land und jede Infektionswelle hätten ihre „Eigenwelt“, sagte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am Mittwochabend gegenüber RTL. Was natürlich stimmt. Dass „alles total außer Kontrolle gerät“, wollte sie aber ebenfalls nicht völlig ausschließen. Dem Radio 100,7 sagte sie gestern, in den Spitälern gehe es nicht mehr lange so weiter wie derzeit. Wenn nicht alles täuscht, legt die Regierung heute neue Maßnahmen nach. Und sei es nur, weil sie einem großen Teil ihrer Bürger/innen nicht gut erklären kann, wieso sie noch wartet.

Peter Feist
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