ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Teures Gemüse

d'Lëtzebuerger Land vom 19.05.2023

Am 20. September vergangenen Jahres sah die Tripartite von einer weiteren Manipulation der Indexanpassungen ab. Um den Anstieg der Lohnkosten zu bremsen, beschloss sie eine Bezuschussung von Erdgas, Strom und Heizöl sowie eine Senkung der Mehrwertsteuer.

Die TVA-Senkung fand wenig Beachtung. Dabei führt sie laut Fiche financière des Gesetzentwurfs zu einem Steuerausfall von 317 Millionen Euro. Dies entspricht dem Jahreshaushalt des Gesundheitsministeriums. Wer erhält die 317 Millionen?

Am 1. Januar wurden drei von vier TVA- Sätzen um einen Prozentpunkt gesenkt. Kaufhäuser warben damit, dass sie die TVA-Senkung an ihre Kunden weitergeben wollten. Das war nicht selbstverständlich. Tripartite, Regierung und Parlament hatten keine Kontroll- und Strafbestimmungen in das Gesetz vom 26. Oktober 2022 geschrieben. Die Gewerbefreiheit war ihnen 317 Millionen wert.

Im Januar sank das Preisniveau gegenüber Dezember um 0,4 Prozent. Das Statec erklärte die Deflation in seiner monatlichen Mitteilung: „Comme chaque année, ce recul s’explique par les réductions de prix offertes à l’occasion des soldes d’hiver.“ Nach dem Winterschlussverkauf stiegen die Verbraucherpreise wieder. Im Februar um stattliche 1,67 Prozent gegenüber Januar. Die TVA-Senkung schien die Index-Entwicklung kaum gebremst zu haben.

Zu den Nutznießern der TVA-Senkung gehören die Depotbanken von Investitionsfonds, die Anlage- und Steuerfluchtberater. Sie bestreiten laut Wirtschafts- und Sozialrat ein Drittel der staatlichen TVA-Einnahmen. Der Prozentpunkt TVA ist ihnen ein Geschenk. Er ändert nichts an der Inflationsrate: Vermögensverwaltung steht nicht im Index-Warenkorb. Andere Nutznießer sind Kunden, die sich größere Anschaffungen leisten. Und Geschäftsleute, die die TVA-Senkung nicht an ihre Kunden weitergeben.

In den letzten zwölf Monaten wurde Fleisch um 9,14 Prozent teurer; Fisch um 9,53 Prozent; Obst um 10,55 Prozent; Kaffee und Kakao um 13,34 Prozent; Brot und Getreideflocken um 14,44 Prozent; Gemüse um 14,49 Prozent; Milch, Käse und Eier um 17,75 Prozent. Das ist weit mehr als alle anderen Warengruppen im Index-Warenkorb – Erdgas, Strom und Heizöl inbegriffen. Ursachen waren europaweit gestiegene Preise für Rohstoffe, Dünger, Energie, Verpackungsmaterial, Transport und Arbeitskräfte sowie drastisch erhöhte Gewinnspannen der Lebensmittelindustrie.

Innerhalb eines Jahres wurden die Lebensmittel um 12,47 Prozent teurer. In der gleichen Zeit stieg die Gesamtinflation nur um 3,69 Prozent: Die Haushalte müssen mehr Geld für Lebensmittel ausgeben.

Nach Berechnungen des Statec verwenden die 20 Prozent ärmsten Haushalte 11,7 Prozent ihrer Gesamtausgaben für Lebensmittel. Die 20 Prozent Haushalte mit den höchsten Einkommen geben nur 6,8 Prozent für Lebensmittel aus (Regards, Juni 2016). Die Audi- bis Maserati-Fahrer müssen nicht von der Hand in den Mund leben. Ihre Einkommenslage ist elastisch: Sie konsumieren, sparen, investieren.

Folglich trifft die Verteuerung der Lebensmittel vor allem die Arbeiterinnen, kleinen Angestellten, Arbeitslosen und Rentnerinnen. Sie müssen bei anderen Ausgaben sparen. Oft auch im Aldi und Lidl bei Lebensmitteln.

Lebensmittel unterliegen dem super-ermäßigten Mehrwertsteuersatz von drei Prozent. Es hätte nahegelegen, diesen um einen Prozentpunkt zu senken. Das hätte jenen geholfen, die von der Hand in den Mund leben müssen. Es hätte auch die Inflationsrate bremsen können. Denn Lebensmittel sind mit fast zehn Prozent im Index-Warenkorb gewichtet.

Doch der dreiprozentige TVA-Satz auf Lebensmitteln ist der einzige, der am 1. Januar nicht gesenkt wurde. Finanzministerin Yuriko Backes beschwor das Parlament: „Fir de Käschtepunkt hu mer jo awer och trotzdeem missen e bëssen, e bësse kucken“ (20.10.22). Wenn sie „kucke muss“, spart die Regierung auf Kosten der Ärmeren und Schwachen.

Romain Hilgert
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